Das Blut der Unsterblichen
Kamm ergänzte. Der Koffer war mittlerweile randvoll und ließ sich nur mit festem Drücken und gleichzeitigem Zerren am Reißverschluss schließen. Als es endlich geschafft war, sank sie schwer atmend auf das Bett und lauschte auf Marcus, der im Wohnzimmer telefonierte.
In der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks befand sich eine abschließbare Schatulle aus Metall, in der sie wichtige Dokumente sowie einen kleinen Notfallgroschen deponiert hatte. Sie holte den Schlüssel aus seinem staubigen Versteck auf dem Kleiderschrank und öffnete die Schatulle. Ihr Reisepass und der von Leila lagen obenauf. Darunter befand sich ein Umschlag, in dem sie einen Notgroschen versteckt hatte. Sie öffnete ihn und zählte das Geld. Lächerliche vierhundertdreißig Euro. Sehr weit würde sie damit nicht kommen.
„Du brauchst kein Geld, Kristina“, sagte Marcus hinter ihr.
Erschrocken fuhr sie herum. „Herrje Marcus, musst du dich immer so anschleichen? Und doch, ich brauche das Geld. Ich möchte gewiss nicht von deiner Großzügigkeit abhängig sein.“
„Das verstehe ich“, erwiderte er. „Aber ich will nicht, dass du dich auch noch um Geld sorgen musst. Ich habe wirklich genug und ich werde nicht zulassen, dass du deine Ersparnisse aufbrauchst.“
„Das ist doch jetzt egal“, erwiderte sie gereizt. „Lass uns endlich fahren, okay?“
Marcus nahm den Koffer und trug ihn nach unten. Kristina folgte ihm. Vor der Haustür warf sie einen letzten Blick zurück. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie, wenn überhaupt, nicht so schnell nach Hause zurückkehren würde. Ihr bisheriges Leben war vielleicht nicht besonders glücklich gewesen, doch wenigstens war es ihr vertraut. Jetzt stand sie vor etwas völlig Neuem und auch Gefährlichem. Es war nicht einmal sicher, ob sie morgen noch am Leben sein würde.
Nachdem sie abgeschlossen hatte, ergriff Marcus ihre Hand und zog sie fort. Auf der Flucht blieb keine Zeit für Sentimentalitäten.
„Bist du bereit?“, fragte er.
„So bereit, wie man nur sein kann, wenn man keine andere Wahl hat“, erwiderte Kristina und stieg in den Wagen.
Marcus lächelte ihr aufmunternd zu, startete den Motor und brauste los.
„Wo fahren wir hin?“, fragte sie.
„Nach Frankreich. Wir treffen uns dort mit Freunden, die uns vielleicht helfen können oder uns zumindest vorübergehend Unterschlupf gewähren.“
Kristina legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ihre Gedanken purzelten in ihrem Kopf herum wie Lottokugeln in einer Trommel. Ihre Tochter war entführt worden, Frank war tot und sie selbst war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Und als wäre das nicht genug, befand sie sich auch noch auf der Flucht mit dem tot geglaubten Marcus, der in Wirklichkeit ein Unsterblicher war. Bisher hatte sie unter Schock gestanden, doch jetzt merkte sie plötzlich, wie ungeheuerlich das Ganze war.
„Ist es wahr, was du über die geborenen Unsterblichen gesagt hast? Dass sie wichtig sind und stark?“, fragte sie. Aus irgendeinem Grund wollte sie erneut die Bestätigung für Leilas Sicherheit.
„Leila trägt große Macht in sich, auch wenn sie das noch nicht weiß. Die Unsterblichen brauchen sie.“
„Warum? Was ist so Besonderes an ihr?“
„Geborene können Menschen und Unsterbliche manipulieren und ihre Gedanken lesen. Sie sind stärker und schneller, obwohl sie weniger Nahrung brauchen. Ihr Blut kann verwandeln und sie können geistige Verbindung mit weit entfernten Personen aufnehmen, herausfinden, wo sie sich aufhalten. Diese Fähigkeiten machen sie zu idealen Anführern.“
Gedankenverloren blicke Kristina aus dem Fenster. Städte und Dörfer flogen vorbei. Neidvoll dachte sie an die Menschen, die dort lebten. Menschen, die keine Ahnung hatten von der Welt, die parallel zu ihrer existierte, keine Ahnung von Unsterblichen, für die sie nichts als eine willkommene Beute waren. Dummes Herdenvieh. Frank hatte keine Chance gehabt und hätte Marcus sie nicht im letzten Moment gerettet, wäre sie ebenso tot wie ihr bester Freund. Noch überlagerte ihre Angst den Kummer, doch der Schmerz und die Schuldgefühle lauerten schon.
Sie betrachtete Marcus. Seine wahre Identität löste die unterschiedlichsten Gefühle in ihr aus und sie war sich noch nicht sicher, auf welche Weise sich diese Gefühle auf ihre Beziehung zueinander auswirken würden. Zwar liebte sie ihn noch immer, doch reichte das aus?
Sie seufzte. Es war fraglich, ob sie überhaupt lange genug leben würde, um es
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