Das Blut der Unsterblichen
wem sprichst du?“, fragte Tian.
Leila schluckte nervös. Natürlich konnte Tian hören, was sie sagte, auch wenn sie flüsterte.
„Ich muss auflegen“, wisperte sie.
Wieder klopfte Tian an die Tür. „Leila? Du telefonierst doch nicht etwa?“
Schnell stopfte sie das Handy in ihre Hosentasche zurück, stand auf und öffnete. „Muss ich denn über alles, was ich tue, Rechenschaft ablegen? Bin ich etwa eure Gefangene?“
„Wir wollen vermeiden, dass du etwas Unüberlegtes tust. Aus diesem Grund finden wir es besser dich ein wenig … wie soll ich sagen … unter Beobachtung zu halten.“ Tian lächelte freundlich, doch Leila sah die Warnung in seinem Blick. Sie war eine Gefangene, so viel stand fest.
„Ihr habt mich belogen“, sagte sie. „Meine Mutter ist gar nicht bei euch.“
Tian zuckte mit den Schultern. „Eine kleine Notlüge. Wir wollten, dass du freiwillig mit uns kommst.“
„Deine Mutter wird nicht lange auf freiem Fuß sein, Leila. Wir werden sie finden, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, warf Uljana ein.
Bevor Leila etwas erwidern konnte, klopfte es. „Zimmerservice.“
Uljana schlenderte zur Tür. Tian umklammerte Leilas Arm und zwang sie, ihn anzusehen. „Lass uns eines klarstellen. Solltest du versuchen, einen Hotelangestellten auf dich aufmerksam zu machen, sehen wir uns gezwungen, ihn zu töten. Solltest du versuchen zu fliehen, werden wir dich mit aller uns zur Verfügung stehenden Macht verfolgen. Sollte die Verfolgung Menschenleben fordern, macht uns das nichts aus. Wenn du Unterschlupf bei deinen Freunden suchen solltest, wird ihnen das schlecht bekommen. Ich würde dir also raten, dich anständig und unauffällig zu verhalten.“
Nach dieser Drohung lächelte er wieder sein freundlichstes Lächeln.
Leila schluckte trocken und nickte. Der Mann vom Zimmerservice kam herein. Aufgeregt klammerte er sich an seinen Servierwagen, während Uljana die Bestellung quittierte und ihm dann ein verführerisches Lächeln zuwarf. Leila sah, wie der junge Mann errötete. Als Uljana ihm, zusammen mit der Quittung, auch ein saftiges Trinkgeld reichte, bedankte er sich überschwänglich. Uljana fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fixierte seine Kehle. Der junge Mann errötete noch mehr und verabschiedete sich stotternd. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, lachte Uljana auf und summte dann gut gelaunt vor sich hin.
Der Duft, der unter den Abdeckhauben hervor stieg, ließ das Wasser in Leilas Mund zusammenlaufen. Anscheinend hatte sie doch Appetit. Nach eingehender Prüfung der Speisen entschied sie sich für Spinatnudeln mit Lachs. Dazu trank sie eine Cola. Uljana setzte sich ihr gegenüber und beobachtete sie interessiert.
„Musst du mich so anstarren?“, fragte Leila.
„Es ist so faszinierend, dir zuzuschauen. Ich frage mich, wann dein Appetit auf Blut erwacht“, erwiderte Uljana.
„Siehst du mich eigentlich noch als Mensch?“
Uljana legte den Kopf schief und überlegte. „Ich weiß nicht. Ich spüre das Leben in dir und rieche dein Blut, aber es verliert bereits seine Wärme. Es ist schon nicht mehr rein menschlich. Auch dein Puls ist schon verlangsamt. Du bist wie ein alter Mensch, den das Leben verlässt, nur ohne den unangenehmen Geruch.“
Leila legte die Gabel zur Seite und tastete nach ihrem Puls. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn fand. Als sie ihn schließlich ertastete, sah sie zur Wanduhr und begann zu zählen. In einer Minute zählte sie fünfunddreißig Schläge. Durchschnitt waren sechzig bis achtzig Schläge. Sie hatte tatsächlich einen verlangsamten Puls.
„Wie kommt das? Wieso verlangsamt sich mein Herzschlag?“
„Unser Körper ist wie eingefroren. Die Körperfunktionen laufen nur auf einem Minimum. Es ist, als befänden wir uns im Winterschlaf, nur dass wir wach sind. Weder benötigen wir viel Schlaf, noch regelmäßiges Essen, noch sonst irgendetwas. Während das Blut deines Vaters in dir immer stärker wird, stellt dein Körper sich langsam auf den ewigen Winterschlaf um.“
„Heißt das, ich werde eines Tages, ohne es zu merken, eine Unsterbliche sein?“
Uljana lachte. „Oh nein, so einfach ist es leider nicht. Du wirst sterben, kleine Leila. Für ein paar Minuten wirst du dein menschliches Leben komplett verlassen, um als Unsterbliche wiedergeboren zu werden. Allerdings wird es bei dir nicht ganz so … unangenehm werden wie bei einer normalen Verwandlung.“
Leilas Herz pochte jetzt um einige Schläge
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