Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen

Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen

Titel: Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
Vom Netzwerk:
ist klüger als Sidney, und er ist unschuldig.«
    »Aber Joe King handelt auch nach persönlichen Empfindungen, nicht nur nach seinem kalten Verstand. Er will zur Zeit von Queenie nichts wissen, ihren Beistand nicht haben, und er mißtraut den Geschworenen. Sidney aber ist nichts als eisige Berechnung, scheint mir. Und er hat die Machthaber für sich.«
    »Wie kann ein Indianer so werden?«
    »Sidney ist der älteste von neun Geschwistern, der Vater ist Kriegsinvalide und säuft. Sidney hat auf Schule, College und am Gericht eine glatte Laufbahn gehabt; er will aus dem Elend des Elternhauses endgültig heraus und weiter vorankommen, auch auf Kosten seiner Mitmenschen. Auf einem solchen Weg...« Ball brach ab. Aber Wakiya sprach aus, was er dachte: »... ist er zum Kojot geworden.«
    »Vielleicht sogar ein reißender Wolf, Wakiya, gefährlich für einen Gefesselten, wie Joe es nun ist. Ich bin sehr unruhig. Es kommt noch auf die Wahlergebnisse an. Wenn Morning Star über Jimmy siegt, hat Joe bessere Chancen.«
    Ende des Monats wurden die Wahlergebnisse bekannt.
    Jimmy White Horse, der häufig betrunkene Chief President, war dank der Anstrengungen der Partei der Trinker und Traditionalisten wieder gewählt worden, jedoch nur mit einer sehr knappen Mehrheit. Im Ratsausschuß blieb Frank Morning Star Ratsmann für Kultur und stellvertretender Häuptling, Mary Booth wurde Ausschußmitglied für Ökonomie. Bill Temple war aus dem Schulwesen ausgeschieden und durch einen neuen jungen Mann ersetzt. Für die Beibehaltung der Stammespolizei hatten mehr als neunzig Prozent der Wahlberechtigten gestimmt.
    An einem milden Herbstabend saß Wakiya wieder am Grabe des alten Häuptlings Inya-he-yukan. Die Gräser schaukelten im Wind wie seit Jahrtausenden; hinter den weißen Felsen sank die Sonne. Wakiya hatte zwei Briefe erhalten. Der eine fühlte sich dick an; sicher war es ein sehr langer Brief. Der andere war dünn, er enthielt sicher nur ein einziges Blatt. Beide waren an Wakiya-knaskiya Byron Bighorn gerichtet. Bob war wieder auf der Agentur gewesen und hatte auf dem Postamt in der general delivery nach Briefen gefragt. Zu seinem großen Erstaunen waren ihm zwei Briefe an Wakiya ausgehändigt worden.
    Mit diesen Briefen hatte sich Wakiya an das Grab gesetzt. Er nahm das Taschenmesser zur Hand, das Alex ihm geschenkt hatte, und öffnete den dicken Brief. Der dünne Brief war ihm wichtiger, daher wollte er ihn erst an zweiter Stelle lesen. Ein Indianer erledigt erst das Unwichtige, um sich dann dem Wichtigen ganz widmen zu können.
    Der dicke Brief kam von Queenie. Sie schrieb von den Mitschülern, von den strengen Ansprüchen, die an alle gestellt wurden.
    Doch schrieb sie nicht von ihren Träumen und nicht von ihrer Sehnsucht und nicht, daß sie krank vor Heimweh war und nicht, wie die Gedanken sie schüttelten und daß sie noch immer nicht die gültige neue Gestalt dafür finden konnte. >Mir ist zumute wie im Fieber. Ich habe keine Ruhe. Aber ich werde nicht aufgeben.< Das war der letzte Satz. Wakiya wollte viel mehr über Tashina erfahren. Aber was Wakiya zu wissen wünschte, das konnte ihm nur Joe sagen, und Joe sprach nicht.
    Wakiya öffnete den zweiten Brief mit ängstlicher Sorgfalt; er fürchtete ihn zu beschädigen, da er so dünn war. Dieser Brief kam aus einem fremden Reich, aus dem Reich der Mauern, der Gitter, der Wächter, der Befehle und des Gehorsams, aus dem Reich ohne Sonne. Er kam aus dem Reich der Gefangenen, das kein anderer betreten durfte. Joe King schrieb aus dem Kerker von New City an Wakiya-knaskiya.
    >Byron Bighorn! Bitte Richter Crazy Eagle, die Besuchserlaubnis für dich zu beantragen. Ich habe Strafverschärfung und darf keine privaten Briefe schreiben, auch keine privaten Besuche erhalten. Aber ich muß dich als Zeugen für die Wiederaufnahme sprechen. Habe keinen Rechtsanwalt. Vertrete mein Recht selbst.
    Joe King.< Wakiya drückte den Briefbogen, den Inya-he-yukan in der Hand gehabt hatte, an seine Wange und setzte sich in den Kerker, von dem er ausgeschlossen und doch nicht ausgeschlossen blieb. Seine Gedanken gingen durch Mauern hindurch und öffneten verschlossene Türen. Er saß bei Inya-he-yukan. Er fühlte mit ihm, wie der Blick, der über Himmel und Erde gehen wollte, an den Zellenwänden hinauf und hinunter irrte, wie die Ohren nicht die Stille des großen Landes in sich aufnahmen, sondern nur die Lautlosigkeit des Kerkers, nicht den Schrei eines Adlers oder das Wiehern eines Pferdes,

Weitere Kostenlose Bücher