Das Blut des Mondes (German Edition)
sollte. Hatte sie womöglich selbst etwas mit der Geschichte zu tun? Sie dachte an ihre Muttermale und die Mondgöttin-Anspielung von Levian. In Verbindung mit ihrer unerklärlichen Angst vor dem Meer … Ihr stockte der Atem und sie wurde unruhig. Ungeduldig wartete sie darauf, dass Levian anfing zu erzählen.
„Es ist eine Geschichte, die man nicht unbedingt glauben kann, so unwirklich ist sie. Ich weiß nicht, wie ich sie erzählen soll, ohne, dass du mich für komplett verrückt hältst.“ Er verzog die Mundwinkel. „Aber ich will es mal versuchen. Ich glaube“, er nahm die Sonnenbrille ab und sah ihr fest in die Augen, „es ist an der Zeit.“
Und so begann er, die Geschichte der ‚Wächterin des Zeitenstrudels‘ zu erzählen.
„Der Leuchtturm wurde um das neunzehnten Jahrhundert herum errichtet. Anfangs aus Holz, später dann aus Stein. Der Bau des Turms war sehr wichtig. Besonders für die Seefahrer. Denn in den Gewässern rings herum kann es zu starken Strömungen kommen und wie du sicher weißt, geht der Wechsel zwischen Ebbe und Flut hier schneller, als irgendwo anders auf der Welt. Nicht umsonst ist das hier mit der östlichste Punkt der Staaten.
Durch den Nebel, der hier in dieser Gegend wie aus dem Nichts aufziehen kann, war es vielen Seeleuten nicht vergönnt, heil an die Küste zu segeln. Sie blieben entweder im Sail Rock hängen, der Klippe dort vorne.“ Levian zeigte weit über das Wasser, wo Ann schließlich eine kleine Erhöhung ausmachen konnte - den Sail Rock .
„Oder?“
„Oder am Gezeitenstrudel. Der Sail Rock war nicht der schlimmste Feind der Seeleute. Es lag eher am Gezeitenstrudel, dass so viele Männer nicht wieder nach Hause kamen. 1858 wurde dann der Turm gebaut, nachdem gerade wieder ein Schiff dem Strudel zum Opfer gefallen war. Wieder kamen viele Menschen ums Leben. Der Turm wurde also gebaut, um vor dem Strudel, sowie auch vor dem Sail Rock, zu warnen.“ Levian hielt inne.
„Okay, soweit kann ich dir folgen“, sagte Ann. „Aber warum ‚Wächterin‘?“
„Als der Leuchtturm endlich gebaut war, um das Schlimmste zu verhindern - was ja auch gelang, denn es half den Seefahrern ihren Kurs beizubehalten - wurde der Turm ‚die Wächterin‘ getauft. Die Wächterin vor dem Bösen. Vor dem Strudel.“
Während Levian die Geschichte erzählte, liefen sie weiter am Strand entlang. Die Sonne spiegelte sich immer noch im Meer und der Wind wehte lau. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit.
Ann sah mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. „Aber warum ist der Strudel jetzt das Böse? Das versteh ich nicht. Ich dachte, das wäre ein ganz normaler Gezeitenstrudel. Eine überaus starke Strömung, die durch die Gezeiten im Meer hervorgerufen wird.“
Levian nickte. „Ja, das dachte man damals auch. Bis ein Stammesoberhaupt der Passamoquoddy erzählte, was es mit dem Strudel wirklich auf sich hat.“
Ann bekam wieder Gänsehaut. Sie hatte keine Ahnung warum, aber sie war sich sicher, dass sie ahnte, in welche Richtung seine nächsten Worte gehen würden. Und sie behielt Recht.
„Das ist das Portal zur anderen Welt.“
***
Wasser nun, sei meine Macht!
Rufe den Wächter, der über dich wacht.
Fürstin des Elements, ich bitte Dich
Neelahjah befreie sich.
„Mist!“
Natalia war wie von Sinnen. Es musste doch einen Weg geben, die mächtige Fürstin des Wassers anzurufen. Seit dem Morgen versuchte sie den Bannspruch wieder und wieder. Doch nichts passierte. Sie hatte alle Zutaten, die sie für die Ausführung des Rituals brauchte, zusammen. Alles in der richtigen Reihenfolge benutzt und aufgesagt.
Erst hatte sie sich gereinigt. Mit dem Element der Fürstin – dem Wasser. Danach zündete sie die dicke schwarze Kerze an, zog mit weißer Kreide einen Kreis auf dem Fußboden und stellte sich hinein. Dabei achtete sie penibel darauf, dass der Kreis nicht unterbrochen war. Denn das könnte fatale Auswirkungen auf das Ritual haben. Neelahjah könnte ausbrechen – ohne ihr zu gehorchen!
Als sie in dem Kreis stand spürte sie bereits die Schwingungen, die Neelahjah aussandte. Sie nutzte ihre Energie, um die Anrufung durchzuführen. Doch noch während der Beschwörung verlor sie den Kontakt zu ihr. Es wurde still. Die Luft hörte auf sich zu bewegen. Sie brach ab.
Sie konnte sich nicht erklären, warum die Fürstin ihrem Ruf nicht folgte. Am Ritual konnte es jedenfalls nicht liegen – das war richtig! Aber woran dann?
„Verdammt noch mal! Was ist bloß los in meinem
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