Das Blut des Skorpions
Offenheit zu sagen, habe ich die Schnauze gestrichen voll von diesem ganzen Schlamassel. Ich habe zweimal mein Leben für diesen verdammten Stein riskiert, und da soll ich ihn einfach so hergeben, aus reiner Freundlichkeit? Niemals. Außerdem kapiere ich immer weniger von all dem, was um mich herum passiert. Zuerst die ermordeten Jesuiten, dann Beatrice, die anscheinend als Spionin für die Franzosen arbeitet, schließlich dieser namenlose Mörder, der durch Rom streift und offenbar nichts anderes im Sinn hat, als mir die Kehle durchzuschneiden. Das Ganze gewürzt mit einem kleinen Ausflug in die Verliese der Inquisition, damit es nicht langweilig wird. Und das ist noch lange nicht das Ende, fürchte ich. Also wirst du doch gestatten, dass ich mich ein wenig schadlos halte? Ich habe die Dukaten, die ich dem Kardinal abknöpfen konnte, noch nicht gezählt, aber dem Gewicht nach zu urteilen müssten es genug sein, um die nächsten Monate zu überleben, ohne an jeder Ecke von Gläubigern angesprungen zu werden, die mir an die Gurgel wollen. So, und jetzt gehen wir etwas essen. Bei all der Aufregung habe ich seit gestern Abend nichts mehr in den Bauch bekommen.«
»Gute Idee«, sagte der Großmeister. »Auch ich verspüre einen gewissen Appetit.«
Kardinal Azzolini legte das Schmuckstück zurück auf den Schreibtisch und rieb sich die müden Augen.
Er hatte das im Bernstein eingeschlossene Insekt lange betrachtet, viel länger, als er wollte, und vergeblich versucht, mit seiner Hilfe in die Gedanken seines Besitzers einzudringen.
Wenn man den Stein gegen das Licht hielt, war das kleine tödliche Wesen in allen Einzelheiten erkennbar, kaum verzerrt von der Konvexität des ihn umschließenden Materials. Trotz seiner Starre in der ewigen Umarmung des Harzes ging von seiner Haltung eine bedrohliche Dynamik aus. Der Rumpf des Insekts war nach links verdreht, als hätte es in dem Moment, in dem es von dem zähen Material getötet und konserviert worden war, seinen giftigen Stachel zu einem letzten Angriff ausfahren wollen.
Leider konnte ihm der winzige Skorpion allein nicht viel verraten. Sein Geheimnis lag in zu großer Tiefe verborgen.
Azzolini wusste genau, dass sein Vorhaben riskant, ein echtes Wagnis war. Monate unermüdlicher Arbeit, endloser Vorbereitungen und mühevoller Verhandlungen – das alles konnte durch den kleinsten Fehler, durch ein vernachlässigtes Detail zunichtegemacht werden.
Doch es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit.
Die Situation in Schweden war an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt, und nur ein Geniestreich würde den Lauf der Ereignisse umkehren können, die immer schneller auf einen unheilvollen Ausgang für die heilige römische Kirche zustrebten.
Wie lange hatte er auf Königin Christine eingeredet, damit sie das Problem tatkräftig anging und ihr noch immer hohes Ansehen ins Feld führte, um wenigstens zu retten, was zu retten war! Eine Pattsituation war nach wie vor möglich und auf jeden Fall wünschenswert, denn sie würde ihm die nötige Zeit verschaffen, um jeden erdenklichen Gegenzug, jede mögliche Strategie in die Wege zu leiten, mit denen den unseligen Plänen der Kirchenfeinde Einhalt geboten werden konnte. Wenn er mehr Zeit hätte, würde es ihm vielleicht gelingen, den König von Frankreich von seiner Dickköpfigkeit abzubringen. Wenn mehr Zeit wäre, hätten die katholischen Fürsten in Deutschland Gelegenheit, sich neu zu organisieren, ihre kleinlichen Streitereien beizulegen und eine gemeinsame Front gegen die um sich greifende Häresie zu bilden.
Wenn.
Aber die Zeit war zu knapp. Der junge Karl XI. von Schweden hatte offenbar nicht mehr lange zu leben, sein Kanzler Magnus bereitete schon seine Nachfolge vor, und die Kirche hatte in diesem Spiel schlechte Karten.
Das Überleben der Kirche als weltliche Macht hing von diesem Schritt ab, dem entscheidenden Schritt, der als einziger das Spiel neu mischen würde.
Ein alter Jesuit, von dem man immer noch nicht wusste, wer er war.
Ein Geheimnis, das über ein halbes Jahrhundert lang gehütet worden war und darauf wartete, gelüftet zu werden.
Nachdem der Skorpion ganze Arbeit geleistet hatte, blieben nur noch drei Kandidaten übrig, aber welcher davon war der Mann, den sie suchten?
Im Moment waren die drei Geistlichen in Sicherheit und wurden streng bewacht, aber das löste das Problem nicht.
Der Skorpion musste um jeden Preis gefasst werden, und zwar lebend und so weit unversehrt, dass er noch verhört werden
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