Das Blut des Skorpions
der Verwandtschaftsverhältnisse gefolgt, um eventuelle Unvereinbarkeiten, im Gange befindliche Fehden und andere kritische Punkte festzustellen. Aus dieser zeitraubenden Arbeit war die endgültige Liste hervorgegangen, und alle, die daraufstanden, hatten zur gebotenen Zeit die in Blau und Gold gedruckte Karte erhalten, die mit schönen Lettern die Einladung zu dem ersehnten Fest übermittelte.
Auf dieser Liste hatten neben den Reichen und Mächtigen auch Angehörige des niederen römischen Adels und eine spärliche Zahl ausgesuchter Vertreter des gehobenen Kaufmannsstandes Platz gefunden, sei es aufgrund von verwandtschaftlichen Beziehungen oder aus purer Rache an anderen, wenig willkommenen Personen, die jedoch nicht übergangen werden durften.
Dieser Brauch, umso später zu kommen, je höher man seinen gesellschaftlichen Rang einschätzte, brachte eine Reihe von Unannehmlichkeiten mit sich, die schwer zu vermeiden waren. Wenn daher die Gastgeber ein Fest beispielsweise um zehn Uhr abends beginnen lassen wollten, schrieben sie auf die Einladungen, dass die Gäste ab sechs Uhr nachmittags erwartet wurden, damit den gesellschaftlichen und dynastischen Eitelkeiten Genüge getan werden konnte, ohne den eigentlichen Zweck des Abends zu gefährden.
Eine Art stillschweigender Übereinkunft wachte über dieses komplizierte Ritual und verhinderte, dass solche gesellschaftlichen Ereignisse im totalen Chaos endeten. Jeder kannte seinen Rang und konnte annähernd sein Verhalten darauf abstimmen, wenn es natürlich auch immer wieder zu unklaren Situationen kam, die schwierige Berechnungen, verfrühte Abfahrten und langes Warten in den Kutschen in angemessener Entfernung vom Ort des Geschehens zur Folge hatten.
Nur die »Gnadenfälle« eilten ungeniert zu den Festlichkeiten, da sie sich nicht an die komplizierten Riten der Höhergestellten halten mussten und außerdem die Vergnügungen und die lang ersehnten köstlichen Erfrischungen von Anfang an auskosten wollten.
Die ersten Ankömmlinge waren also kleine Adelige und Bürgerliche, denen die unverhoffte Ehre einer Einladung aufgrund einer undurchsichtigen Verwandtschaft mit einem Reichen und Mächtigen oder einer engen geschäftlichen Beziehung zu einem Kirchenfürsten zuteilgeworden war. Die Ankunft dieser Gäste erfolgte in einem engen Zeitrahmen und wurde von allgemeiner Gleichgültigkeit begleitet. Die Dienstboten, die die Erfrischungen reichten und von den Haushofmeistern befehligt wurden, servierten ihnen nur Speisen von minderer Qualität, aber in ansehnlicher Menge, damit die hungrigen Mägen dieser unbedeutenden Leute möglichst schnell gefüllt würden. Denn ihr blaues Blut war so verwässert, dass es bei genauem Hinsehen genauso rot wirkte wie das von Obsthändlern oder Fuhrknechten.
Die Gäste eines gewissen Ranges pflegten erst nach Sonnenuntergang einzutreffen. Fulminacci und Melchiorri hatten sich auf einem niedrigen Diwan nahe des Eingangs niedergelassen, um das Defilee bequem beobachten zu können. Nach ihrer Ankunft im Palast hatten sie ihre Masken hochgeschoben, die bei all ihrer faszinierenden Schönheit doch sehr warm waren. Jetzt jedoch, da der Saal sich zu füllen begann, zogen sie sie wieder über die Augen, sodass nur die untere Gesichtshälfte frei blieb. Der Maler betrachtete seinen Gefährten, der sich, wie zu erwarten, als Eule – dem heiligen Vogel der Athene, der Göttin der Weisheit – maskiert hatte. Aufgrund seiner nicht eben zierlichen Gestalt erinnerte er allerdings eher an einen großen Uhu. Ganz andere Erscheinungsbilder erblickte Fulminacci hier und da auf der gegenüberliegenden Seite des Saals in der Menge. Auch Beatrice hatte ihre kleine Maske übergezogen, die die Züge einer anmutigen Blaumeise nachahmte, und sie flatterte tatsächlich wie ein fröhlich zwitscherndes Vögelchen im Frühling von einer Gruppe zur anderen.
Er spürte einen Stich der Eifersucht und zwang sich, den Blick von der Quelle seiner Unruhe zu lösen und wieder auf die ankommenden Gäste zu richten.
Alle hatten sie zu diesem besonderen Anlass ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und sich mit den märchenhaftesten Kostümen, den extravagantesten Masken und den seltensten und kostbarsten Stoffen geschmückt, um Eindruck bei der großzügigen schwedischen Königin zu machen. Doch auch wenn die Eingeladenen nicht maskiert gewesen wären, hätte Fulminacci vermutlich niemanden erkannt. Er trieb sich normalerweise an ganz anderen Vergnügungsstätten herum und
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