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Das Blut des Skorpions

Das Blut des Skorpions

Titel: Das Blut des Skorpions Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massimo Marcotullio
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fragte er sich, dass ein Mann kein Bedürfnis hatte, ein paar persönliche Dinge mit sich herumzutragen, etwas, das ihn an seine Heimat erinnerte, an seine Familie, einen Freund oder sonst jemanden, der ihm lieb war? In der Herberge war er auf die gleiche bedrückende Unpersönlichkeit gestoßen: ein paar unbeschriebene Blätter Papier, Waffen, dunkle Kleidungsstücke.
    De la Fleur hatte den Kontinent an der Spitze seiner Kompanie kreuz und quer bereist; er hatte an zwei großen Feldschlachten und vielen Scharmützeln teilgenommen. Stets war er, nachdem die Waffen geschwiegen hatten, zwischen den Gefallenen herumgegangen, und stets hatte er bei den gemarterten Körpern Spuren eines privaten Lebens gefunden: einen Gruß von der Liebsten, einen Brief von der Mutter, ein Amulett oder irgendeinen persönlichen Gegenstand.
    Was war das für ein Mensch, den er da gefangen nehmen sollte? Eine kaltblütige Bestie, ein Wesen ohne menschliche Empfindungen, das auf dieser Unmenschlichkeit, auf seiner Verachtung für jedes Gefühl seinen Ruhm als nicht zu greifender, unfehlbarer Mörder aufgebaut hatte.
    In den Monaten, in denen er dem Skorpion durch halb Europa hinterhergejagt war, hatte de la Fleur oft die Zähne zusammenbeißen müssen vor Ungeduld, ihn zu stellen, doch jetzt war er plötzlich nicht mehr so begierig darauf, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.
    Mit einer halb resignierten, halb angewiderten Bewegung warf der Capitaine das Kleidungsstück weg, das er in der Hand gehalten hatte, und verließ das Haus, um frische Luft zu schnappen, soweit das in dieser vor Feuchtigkeit und Abfall stinkenden Gasse möglich war.
    »Er ist nicht hier, Capitaine«, sagte Sergeant Bruyère und spuckte auf das schmutzige Pflaster.
    »Das sehe ich selbst, Sergeant. Entweder ist er schon wieder abgehauen oder noch nicht eingetroffen. Vermutlich Letzteres.«
    »Was machen wir jetzt?«, fragte der Sergeant.
    De la Fleur schüttelte den Kopf. »Dieser ganze Einsatz ist von Anfang an schiefgelaufen. Savattieri und seine Leute haben alles vermurkst, und jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf unsere zahlenmäßige Überlegenheit zu verlassen. Wir wissen nicht, wo der Skorpion sich im Moment befindet, wohl aber, dass er irgendwo zwischen den vorrückenden Patrouillen und dem Fluss in der Falle sitzt. Die verschiedenen Trupps werden ihn auf den Tiber zutreiben, und dort werden wir ihn erwarten. Das ist zwar nicht ideal, aber besser als nichts. Kommt, Sergeant, gehen wir.«
    Die beiden Männer traten auf die Straße, gefolgt von zwei weiteren Musketieren.
    »Ihr vier«, sagte der Capitaine zu den Soldaten, die die Pferde hielten, »bleibt hier und bewacht das Haus. Die anderen, aufsitzen. Wir reiten zu den Brücken. Diesmal kann und darf er uns nicht entwischen.«
    Pater Kircher stützte sich auf eine Balustrade mit Blick auf den Fluss. Die so gut wie schlaflose Nacht und der lange Spaziergang durch den Park hatten ihn vollkommen erschöpft, und er war froh, dass die Königin mitsamt ihrem schwatzhaften Gefolge weitergegangen war und ihm einen Augenblick der Ruhe gönnte.
    Große Schwalbenschwärme jagten über den sturmzerzausten Himmel und woben mit ihren Flugbahnen ein verschlungenes Muster vor dem grauen Hintergrund der tief hängenden Wolken, das seine gequälte Seele aufheiterte. Zum hundertsten Mal fragte sich der Jesuit, welche Bedeutung wohl diese komplizierten Schnörkel der schwarzen, pfeilschnellen Wesen haben mochten. Denn in allem, auch in den Spielen dieser über den Himmel flitzenden kleinen Vögel, zeigte sich die Hand des Schöpfers. Das gesamte Universum schrieb den Namen Gottes in einer unendlichen Reihe, doch der Mensch in seiner Beschränktheit konnte nur flüchtige Schimmer davon erahnen. Pater Kircher hatte Zeugnisse des göttlichen Geistes bei seinen Erforschungen der Vulkankrater gefunden, bei seinem unermüdlichen Studium der Schriften der Weisen, in den seltsamen Formen der Obelisken und der Sphingen und in den geheimnisvollen Hieroglyphen. In der Gestalt der Kontinente. In den spiralförmigen Mustern von Meeresmuscheln. In den unzähligen Insektenarten. Jedem Stein hatte der Höchste seinen ewigen Willen eingeschrieben, mit einer Handschrift, welche die Menschen zu lesen nicht fähig waren.
    Und doch hatte er, Athanasius Kircher, Jesuit und Gelehrter, in seinem unverzeihlichen Hochmut versucht, Gottes Schrift zu entziffern. Erst jetzt wurde ihm die Sünde bewusst, die er in seiner eitlen

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