Das Blut des Skorpions
aufbrechen können. Weil sie nicht aufgeben wollte, fuhr sie mit vor Kälte steifen Fingern alle Fugen zwischen den Steinblöcken der Wände und des Bodens nach.
Sie machte noch eine Zeit lang mit ihrer Erkundung weiter, obwohl inzwischen klar war, dass sie alles entdeckt hatte, was es zu entdecken gab. Nichts davon bot Anlass zu einer auch noch so schwachen Hoffnung.
Schließlich legte sie sich auf die Bank und zwang sich, an andere Fluchtmöglichkeiten zu denken, aber ihr Geist war benommen vor Kälte und der Furcht, dass diese Zelle ihr letztes Quartier auf Erden sein könnte.
KAPITEL XXXV
Die Straßen, die durch das Ponte-Viertel zur Engelsbrücke und ans andere Tiberufer führten, waren trotz der Mittagszeit voller Menschen. Der übliche Verkehr von Fußgängern, Lasttieren, Waren und Hausrat, der täglich die Wege verstopfte, wirkte jedoch irgendwie seltsam. Es lag etwas in der Luft, etwas wie ängstliche Erwartung. Die Wäscherinnen hörten sich zwar noch ordinärer an als sonst, aber es fehlte der gewitzte, spöttische Ton, für den sie berühmt waren. Die Gemüsehändler, die Fleischer und die Straßenverkäufer priesen ihre Waren an wie immer, doch ihr Geschrei, das zum Kauf animieren sollte, war ohne Schwung und Spontaneität. Sogar die Spiele der kleineren und größeren Kinder ließen die gewohnte Frechheit und Unbekümmertheit vermissen. Das Volk von Rom war in einer Art Interimszustand erstarrt, ähnlich wie bei einem Gewitter, wenn man nach dem Zucken des Blitzes auf den Donner wartete. All das bemerkte der Skorpion, während er durch die Menge hindurchmarschierte und versuchte, im Gleichschritt mit den anderen drei Männern zu gehen, die wie er als päpstliche Gardisten verkleidet waren.
Die Idee war nicht schlecht, musste er zugeben.
In der Mitte des Trupps ging schlurfend und bei jedem Schritt jammernd einer der Männer, die ihn in der Taverne abgeholt hatten. An der Brücke würde sich die Aufmerksamkeit der dort stehenden Wachen zweifellos auf den angeblichen Gefangenen richten.
So war es jedenfalls geplant.
Während er sich einen Weg durch das Gedränge bahnte und sich dabei stets neben den anderen hielt, dachte der Skorpion über die Ereignisse der vergangenen Tage und Stunden nach. Und darüber, ab wann alles schiefgelaufen war. Die ganze Angelegenheit hatte schon unter einem schlechten Vorzeichen begonnen, damals vor vierundvierzig Jahren in Deutschland. Der zugesagte Lohn hätte nicht besser sein können, und der Auftrag stellte ihn vor keine unlösbaren Schwierigkeiten. Obendrein bot er ihm die Gelegenheit, ein paar Katholiken umzubringen, was allein schon mehr als genug Ansporn war.
Nur hatte er sich unklugerweise nicht die Mühe gemacht, nach den Beweggründen seines Auftraggebers zu forschen, den er bis heute nicht kannte und mit dem er nur über einen Mittelsmann in Kontakt gestanden hatte.
Wäre er etwas älter und reifer gewesen, hätte ihm nicht entgehen können, wie merkwürdig es war, dass man ihn für den Mord an einem Mann engagierte, von dem noch nicht einmal sein Auftraggeber genau wusste, wer er war. »Der Mann, den du aus dem Weg räumen musst, ist ein Student im Novizeninternat der Jesuiten in Paderborn«, hatte man ihm gesagt. »Du erkennst ihn an einem großen, dreieckigen Muttermal auf dem rechten Oberschenkel, direkt unterhalb der Leiste.«
»Es wird nicht einfach sein, unter die Kutten von ein paar Hundert Novizen zu spähen«, hatte er eingewandt.
»Der Betreffende ist etwa achtzehn Jahre alt und hat ein Muttermal auf dem rechten Oberschenkel«, hatte der Mittelsmann wiederholt. »Wenn du ihn nicht sicher erkennst, bring alle um, auf die diese Beschreibung zutrifft.«
»Ihr verlangt ein Blutbad von mir«, hatte der Skorpion erwidert. »Das wird Euch ein hübsches Sümmchen kosten, nur damit Ihr es wisst.«
»Geld spielt keine Rolle, Hauptsache, der fragliche junge Mann stirbt. Erledige diesen Auftrag, und du wirst großzügig entlohnt werden.«
Als der Skorpion hörte, auf welche Summe sich der Lohn belief, ließ er alle Zweifel fahren und stürzte sich mit seiner ganzen tödlichen Effizienz auf die Aufgabe.
Das Schwierigste war, die Opfer voneinander zu isolieren. Wie zu erwarten, herrschte im Novizeninternat ein reges Gemeinschaftsleben, und diese verfluchten Studenten waren fast immer zusammen, beteten zusammen, lernten zusammen, aßen zusammen, schliefen zusammen. Doch da es ihm nicht an Talent und Durchtriebenheit mangelte, hatte er bald einen
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