Das Blut von Magenza
Mosaik. Der blutgetränkte Boden, die verstümmelten Körper, die todesstarren Gesichter, untermalt von einem unerträglichen Lärm aus Angstschreien, Waffengeklirr, Trommeln und Triumphgesängen. Er glaubte, den würgenden Geruch der Verwesung zu riechen. Schmerz fraß sich durch seinen Körper, bis er tief in seinem Herzen und seinem Kopf festsaß. Er ließ sich nicht verdrängen, geschweige denn lindern. Mit jeder weiteren Stunde wünschte er sich, dieser Welt entfliehen zu können, hinüber in die ewige Ruhe.
Er fragte sich, warum der Allmächtige dies zugelassen hatte. Doch sosehr er auch grübelte, er fand keine Antwort. Apathisch lag er auf dem Bett in der kleinen Kammer des Pfarrhauses und starrte zur Decke. Er haderte mit seinem Schicksal, denn er konnte keinen Sinn in seinem Überleben erkennen. Die Gestalt Hiobs tauchte vor ihm auf. Ein frommer Mann, der auf Betreiben des Satans alles verlor. Aber er hielt an seinem Glauben fest, sagte sich trotz der schweren Prüfungen nicht von seinem Schöpfer los und wurde am Ende reichlich belohnt. Der Satan hatte auch in Worms gewütet und Ariel war ihm entronnen. Prüfte der Herr etwa auch ihn? Dieser Gedanke tilgte zwar nicht den Schmerz, aber er nährte leise die Hoffnung.
Sobald der Tag dämmerte, stand er auf und sprach das Morgengebet. Gestern hatte der Pfarrer ihm frische Kleidung, Wasser und etwas zu essen gegeben, aber er hatte diese Gaben verschmäht. Heute Morgen nahm er sie an. Nachdem er sich gewaschen und die Kleider gewechselthatte, stärkte er sich und verließ dann unbemerkt das Pfarrhaus. In einem Stall fand er ein Pferd. Er schlich hinein, bemerkte den Stallburschen, der selig in einer Ecke schnarchte, und nahm sich ein Tier. Draußen stieg er auf und galoppierte wie der Wind nach Magenza. Er musste seine Brüder warnen, um ihnen sein Schicksal zu ersparen. Wenn er Glück hatte, erreichte er noch heute die Stadt. Dabei war ihm egal, ob er unterwegs Kreuzfahrern in die Hände fiel. Sein Leben bedeutete ihm nichts mehr.
Mainz, in der Stadt
Die Kunde vom Überfall auf Speyer verbreitete sich rasend schnell. Je häufiger sie wiederholt wurde, umso barbarischer gestalteten sich die Details. Viele zeigten Mitleid mit den Juden, andere blieben ungerührt. Aber es gab auch solche, die ihnen die Schuld zuwiesen und sich in den Schenken die Köpfe heiß redeten. „Sie sind der Anlass für diese Misere! Werft sie aus der Stadt, dann werden wir verschont.“
Noch befanden sich diese Rufer in der Unterzahl, denn die meisten Bürger standen zu ihren jüdischen Nachbarn. Aber das schwelende Gift des Argwohns breitete sich aus und verunreinigte ihre Gedanken. Manche suchten Zuspruch im Gebet und vertrauten ganz auf Gott, einige wollten Mainz verlassen, erkannten aber, dass es nirgends einen Ort der Zuflucht gab, der ihnen Sicherheit bieten konnte, wie die Stadt es tat. Keller mussten als Verstecke für das Hab und Gut herhalten und alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde aus den Vororten Selenhofen und Vilzbach hinter die Mauern in Sicherheit gebracht. An den Stadttoren wurde genauer kontrolliert als an den Tagen zuvor undder Erzbischof hatte am frühen Morgen Späher ausgesandt, damit sie die Umgebung erkundeten, um die Bürger beim Anrücken der ersten Krieger zu warnen. Morgen begingen sie Christi Himmelfahrt, den Tag, an dem Jesus als Sohn Gottes wieder an die Seite seines Vaters zurückgekehrt war. Aber ihnen stand nicht der Sinn nach feiern. Sie hätten den Herrn lieber an ihrer Seite als fernab im Himmel gewusst.
Im Judenviertel herrschte gespenstische Ruhe. Um nicht Opfer von Anfeindungen zu werden, verkrochen sich die Menschen in ihren Häusern. Da sie sich nicht ins Freie wagten, ließen sie ihre christlichen Diener und Mägde Erledigungen machen. Wer nicht betete, suchte Geld, Schmuck und Wertsachen zusammen, um alles greifbar zu haben, falls sie fliehen mussten.
Auch im Anwesen des Kämmerers bewegte der Überfall auf die Nachbarstadt die Gemüter. Hanno war geradewegs zu seinem Herrn gegangen, um ihn an sein Versprechen zu erinnern. „Herr, lasst mich nach Battenheim reiten, um die Dörfler nach Mainz zu bringen, bevor das Heer anrückt.“
Doch der Kämmerer sträubte sich. „Ich brauche dich hier. Es sind wichtige Aufgaben zu erledigen. Erzbischof Ruthard erwartet mich nachher. Ich will, dass du in Reichweite bist.“
„Heute kann nicht mehr allzu viel getan werden, morgen ist Feiertag, da ruht die Arbeit sowieso. Ihr wisst so
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