Das Blut von Magenza
jetzt nicht betrauern.“
„Dann hättest du aber auch die Geburt deinerEnkeltochter nicht erlebt“, widersprach Sara.
Rachel brach wimmernd zusammen. „Wie geht es nun weiter? Wir sind verlassen, jetzt, wo alle tot sind. Das Leben, das wir hatten, existiert nicht mehr. Alles, was wir liebten, ist ausgelöscht.“
Sara erwiderte mit schmerzbetäubter Stimme: „Vater und Immanuel leben noch! Isaac vielleicht auch. Wir sind also nicht ganz verloren.“
„Kann ich noch etwas für euch tun?“, fragte Magdalena, die sich angesichts dieser Verzweiflung unbehaglich fühlte.
„Nein, lass uns jetzt bitte allein“, bat Rachel und Magdalena ging.
Secretarium, spätabends
Die Luft in dem dunklen Raum war stickig und heiß. Die fünfzig Männer, die dicht gedrängt beieinandersaßen, wagten nicht zu reden und litten wegen der Hitze großen Durst. Einmal hatte der Diener nach ihnen gesehen und ihnen Wasser gebracht, das er sich teuer bezahlen ließ. Doch die Krüge waren längst geleert und inzwischen klebten ihre Zungen an ihren Gaumen. Draußen herrschte Totenstille. Die Schreie im Palast waren seit einer Ewigkeit verstummt und die beängstigende Ruhe raubte ihnen die Hoffnung.
„Ob es schon Abend ist?“, fragte der Sohn des Kalonymos, der in der Abgeschiedenheit des Secretariums jedes Zeitgefühl verloren hatte.
„Ich nehme es an“, bestätigte ihm sein Vater.
Wenig später wurde die Tür aufgeschlossen und der Diener erschien. „Es ist vorüber. Der größte Teil der Kreuzfahrer hat die Stadt verlassen. Sie feiern ihren schändlichen Siegdraußen vor den Toren. Jetzt ist der Zeitpunkt für eure Flucht günstig. Soldaten des Erzbischofs bringen euch nach Rüdesheim. Kommt jetzt heraus. Ich führe euch zu ihnen.“
Im Hof des Palastes bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Überall war Blut und die nackten Leiber der Erschlagenen lagen kreuz und quer übereinander. Sie mussten über die Leichen ihrer Mitbrüder steigen, was ihnen ungeheure Überwindung abverlangte. Ihr Anblick erfüllte sie mit unsäglichem Schmerz und zerriss ihnen beinah das Herz. Aber sie wagten nicht, die Totenklage anzustimmen, noch waren sie nicht sicher.
„Gibt es Überlebende?“, fragte der Parnass einen der Soldaten.
„Nur die Zwangsgetauften“, lautete die knappe Antwort.
„Demnach existiert die Gemeinde von Magenza nicht mehr“, stellte Kalonymos fest.
„Vater, wenn alle tot sind, warum sollen wir uns dann überhaupt zu retten versuchen?“, meinte sein Sohn verzweifelt.
„Weil nur die Lebenden die Toten nicht vergessen und so die Erinnerung an ihre Namen wachhalten. Sie und alles, was hier geschah, darf nicht in Vergessenheit geraten. Wir werden unsere Gemeinde wieder aufbauen, auch wenn es Jahre dauert“, erwiderte er trotzig, obwohl er selbst nicht so recht daran glauben konnte, denn eine Zukunft Magenzas erschien ihm angesichts dieses großen Unheils unvorstellbar.
In welchem Zustand sich ihr Viertel befand, konnte er nur erahnen. Synagoge und Jeschiwa blieben auf lange Zeit verwaist, die Geschäfte der Händler standen leer und ein Großteil ihres Vermögens war verloren. Kalonymos fragte sich, wie es um das Geld stand, das sie dem Erzbischofanvertraut hatten. Ob er es vor Plünderungen retten konnte und es ihnen in Rüdesheim aushändigte? Ein Neuanfang würde äußerst schwierig werden und ohne Kapital beinah unmöglich sein. Aber wollten sie überhaupt auf diesem Boden, auf dem annähernd tausend ihrer Mitbrüder den Tod gefunden hatten, ihre Tradition aufrechterhalten?
In der Stadt, mitten in der Nacht
Isaak erwachte aus seiner Ohnmacht. Conrad hatte die ganze Zeit an seinem Bett gewacht und den Jungen nicht aus den Augen gelassen. Als er die Lider öffnete, erkannte der Mönch, dass er wieder einigermaßen bei Verstand war.
„Es ist alles vorüber“, stellte Conrad fest.
Sein Schützling wandte den Kopf zu Seite. Tränen liefen seine Wangen hinab und er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.
Conrad versuchte ihn zu trösten. „Einige Zwangsgetaufte haben überlebt.“
„Sie gehören ab jetzt nicht mehr zu uns, sondern sind Ausgestoßene!“, schluchzte Isaac.
„Weitere fünfzig wurden gerettet. Sie befinden sich gerade auf dem Weg nach Rüdesheim zum Erzbischof. Unter ihnen sind Kalonymos und sein Sohn.“
Diese Nachricht besänftigte den Knaben etwas, der sich nun gleich weniger wie ein Verräter vorkam. Wenn selbst der Parnass sich versteckt gehalten hatte, war es vielleicht doch
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