Das Blut von Magenza
letzten Kreuzfahrer mit Waffengewalt aus der Stadt getrieben. Inzwischen waren die Tore wieder verschlossen und gut bewacht. Nun schliefen die Pilger trunken vor Siegestaumel und geraubtem Wein in ihrem Lager, während der Gestank des Todes die Stadt zu erobern begann.
Der Geruch nach Blut, Erbrochenem, Fäkalien und den gärenden Inhalten aufgeschlitzter Bäuche drang von den Gassen bis in die Häuser. Im Bischofspalast, im Burghof und auf den Plätzen davor stapelten sich die Leichname. Seit den frühen Morgenstunden hoben Männer Gruben aus, in denen die Toten ihre letzte Ruhe finden sollten. Und es musste schnell gehen, wenn Mainz nicht ersticken sollte. Genau wie in Worms würden die Toten nackt, ohne einen Sarg und in blanker Erde beigesetzt werden. Kein Grabstein markierte die Stelle, an der sie bis in Ewigkeit ruhen sollten und an der sich die Juden an ihre geliebten Verstorbenen hätten erinnern können. Obwohl diese Aufgabe eine ehrlose war, versuchten die Totengräber, sie ehrenhaft zu erfüllen.
Als Isaac spät am Morgen erwachte, saß Conrad noch immer an seinem Bett. Die Erschöpfung hatte ihn übermannt und er war im Stuhl eingeschlafen. Doch kaum rührte sich der Knabe, war er sofort wach. Noch in der Nacht hatte die Oberin des Klosters einen Knecht gesandt und Conrad mitteilen lassen, dass Sara Mutter geworden war. Mit dieser Neuigkeit überraschte der Mönch den trauernden Knaben. „Sara hat gestern ihr Kind bekommen. Es ist ein Mädchenund beide sind wohlauf.“
„Dann bin ich jetzt also Onkel. Aber ich kann mich nicht so recht darüber freuen“, meinte Isaac zaghaft.
„Ich kann dich nicht wirklich trösten, denn es ist zu schrecklich, was deinem Volk zugestoßen ist. Aber die Geburt eines Menschen ist immer ein Anlass zur Freude.“
„Wann werde ich Sara und Mutter sehen?“
„Sobald alle Kreuzfahrer endlich abgerückt sind. Die ersten brechen heute angeblich auf.“
Altmünsterkloster
Sara und das Kind hatten lange geschlafen. Das Kleine erwachte mit einem Gähnen, das an eine kleine Katze erinnerte und Sara ein Lächeln entlockte. Doch als sie ihre Mutter anschaute, erschrak sie zutiefst. Anscheinend hatte sie während der Nacht nicht geschlafen. Ihr Gesicht war fahl und sie schien geschrumpft zu sein, sodass sie um Jahre älter wirkte. Ihr Haar, ihre Augen waren stumpf und Falten hatten sich um Mund und Nase eingegraben, die gestern noch nicht dagewesen waren.
„Mutter, geht es dir nicht gut?“, fragte Sara besorgt.
Rachel antwortete ihr wie durch einen Nebel: „Ist dir bewusst, dass wir keine Zukunft haben? Alles ist vernichtet, kaum einer hat überlebt und die Toten werden gerade in riesigen Gräbern verscharrt.“
„Isaac etwa auch?“, erschrak sich Sara.
„Nein, ich erfuhr heute im Morgengrauen, dass es ihm gut geht. Wir können hier nicht bleiben! Magenza ist nicht länger unsere Heimat. Lass uns nach Schpira zu unseren Verwandten ziehen.“
Sara setzte sich auf und erwiderte trotzig: „Nein, ich gehenicht. Dies ist die Stadt meiner Ahnen. Hier wurde ich geboren und hier werde ich sterben, außer mein Mann verlangt anderes von mir. Aber solange er nicht da ist, harre ich hier aus.“
Rachels Blick klärte sich. Sie schaute ihre Tochter an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Mit versteinerter Miene sagte sie: „Wie kannst du hier noch leben wollen? An einem Ort, an dem die Irrenden uns vernichteten und an dem unser Schöpfer uns verließ?“
„Er hat unsere Brüder und Schwestern auch in Schpira und Warmaisa verlassen! Außerdem gibt es hier nicht nur blindwütige Eiferer. Einige haben uns geholfen, ohne etwas dafür zu verlangen: Widukind, Conrad, die Äbtissin.“
„Das sind nur drei von Tausenden.“
„Drei sind mehr als niemand. Ich weiß nicht, wie und ob ich den Schmerz über dieses große Unheil jemals besiegen kann, aber ich bin nicht bereit, mich von ihm niederringen zu lassen. Wir haben für unsere Sünden gebüßt, und zwar in einem Maße, das für uns unvorstellbar ist. Vielleicht gewährt der Herr uns jetzt einen Neubeginn und vergibt uns. Wenn ich meine Hoffnung angesichts des Leids, der Grausamkeit und der Ungerechtigkeit fahren lasse, dann siegt der Hass. Und in einer Welt voller Hass kann ich nicht leben und erst recht nicht mein Kind aufziehen. Ich werde lernen zu verzeihen – allerdings ohne dieses Unglück jemals zu vergessen. Diese Ereignisse werden auf immer ein Teil unserer Geschichte bleiben und sind deshalb unauflösbar mit uns
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