Das Blut von Magenza
vor beinah neunzig Jahren gehabt hatte. Sein Entwurf war von einer gewissen Eigenwilligkeit geprägt, was einiges über den Charakter seines Erbauers aussagte. Die dreischiffige Basilika wies nämliche eine bauliche Besonderheit auf, wiees sie im ganzen Reich nicht gab. Statt einem besaß sie zwei Chorräume und der Hauptaltar befand sich im West- und nicht wie üblich im Ostchor.
Warum Willigis das so geplant hatte, wusste heute niemand mehr und es gab deshalb verschiedene Interpretationen. Manche meinten, dass durch das Sacerdotium im Westen und das Imperium im Osten die Gegensätzlichkeit zwischen Klerus und König ausgedrückt werden sollte und dass Willigis damit den anhaltenden Disput zwischen Krone und Kreuz thematisierte. Andere glaubten, dass die Doppelchorigkeit rein liturgischen Zwecken diente, da Prozessionen zwischen den beiden Chorräumen möglich waren.
Widukind hatte keine Meinung dazu. Er betrachtete das Gemäuer mit den Augen eines Steinmetzen. Mochte auch die Klosterkirche von St. Alban die politisch bedeutungsvollere im Erzbistum sein, der Dom war das repräsentative Wahrzeichen der Stadt, vor knapp einem Jahrhundert erbaut, um die Jahrhunderte zu überdauern. Seine Trutzigkeit versprach Sicherheit und seine dicken Mauern versinnbildlichten die Ewigkeit, auch wenn das Kirchenschiff bereits zum zweiten Mal durch Brände beschädigt worden war. Wie oft der Dom auch zerstört werden mochte, die Mainzer würden ihn immer wieder aufbauen, dessen war sich Widukind gewiss. Solange er stand, würde es den Steinmetzen nie an Arbeit mangeln, und die ständigen Erneuerungen und Umbauten im Innern wie auch an der Außenfront stellten für jeden seiner Zunft eine Herausforderung dar.
Als Widukind das mächtige Portal erreichte, standen die Bettler davor Spalier. Hatten die frommen Bürger sich am Tag schon großzügig gezeigt, waren sie es heute Abendnicht minder. Auch Widukind verteilte seine Almosen, wobei er darauf achtete, dass jeder den gleichen Anteil erhielt. Dann drückte er die schwere Tür auf und betrat das Kirchenschiff, das seit dem Brand vor vierzehn Jahren immer noch eine Baustelle war. Er musste ein Gerüst umgehen, um bis ins Mittelschiff zu gelangen. Wenigstens waren die Speiskübel und anderen Gerätschaften fortgeschafft worden und der Innenraum einigermaßen aufgeräumt. Die Instandsetzung zog sich hin, obwohl stetig gearbeitet wurde. Aber es ging nur schleppend voran, da es an Geld und Arbeitskräften mangelte. Kaiser Heinrich IV. hatte angekündigt, sich am Wiederaufbau beteiligen zu wollen und Steinmetze aus der Lombardei in Aussicht gestellt. Noch waren sie nicht eingetroffen, wurden aber sehnlichst erwartet.
Während er sich zu der Gruppe der Steinmetze gesellte, wanderte sein Blick die Menge entlang. Ganz vorn standen die Adligen und Oberen der Stadt. Stadtgraf Gerhard befand sich in Begleitung seiner Gemahlin sowie zweier Männer, die Widukind nicht kannte. Zu seiner Überraschung gehörte auch Griseldis zu dieser Gesellschaft und Widukind fragte sich, wie sie das bewerkstelligt hatte. Sollte Sanne mit ihrer Annahme am Ende doch recht haben, dass Griseldis die Nähe des Stadtgrafen suchte? Reinhedis schien darüber jedenfalls nicht glücklich, denn sie warf ihr aus den Augenwinkeln wenig wohlwollende Blicke zu.
Rechts neben Griseldis, aber doch mit deutlichem Abstand, erspähte er Dithmar. Der Sohn des Tuchmachermeisters wie auch die anderen Männer wandten ihr immer wieder die Köpfe zu und versuchten ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch Griseldis ignorierte sie. Sie hielt sich aufrecht wie eine der Säulen des Mittelschiffs und blickte starrauf den Altarraum. Die Reaktionen der Männer überraschten Widukind nicht, denn neben Griseldis verblassten die anderen Frauen geradezu. Im Schein der Fackeln glänzte ihr Haar wie gesponnenes Gold und der dunkelblaue Stoff ihres Überwurfs, der farblich genau mit ihrem Kleid harmonierte, betonte ihre Augenfarbe. Obwohl sie aus der Ferne einem Himmelswesen glich, fühlte Widukind sich nicht von ihr angezogen. Die Aura, die sie umgab, war keine gute. Sie strahlte etwas Falsches aus.
Er verschwendete keinen weiteren Gedanken an sie, denn der Gottesdienst begann und Ruthard betrat in Begleitung der Herren des Domkapitels den Chorraum. Angeführt wurde die Prozession von Mönchen, die einen feierlichen Gesang anstimmten. Ihre kraftvollen Stimmen ließen das Kirchenschiff erbeben und drangen bis in den letzten Winkel. Die Anwesenden
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