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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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und ratlos ausleben müssen. Woher das Geld stammte, mit dem ihre Kinder sie aus dem Ausland unterhielten, wußten die Eltern Ivanas ebensowenig wie den Ursprung der Plastikschüssel.
    Ja, es gab noch den Garten am Haus, ingeniös angelegt mit seinen Gemüsefeldern, seiner Weinpergola und den im Schatten zu unmäßigem Umfang anwachsenden Kürbissen. Ich sah Ivanas Mutter von Sonnenflecken gesprenkelt unter der Pergola sitzen, auf ihrem Stuhl. Es war, als habe man sie dort hingetragen, oder war sie tatsächlich die paar Schritte nach draußen gegangen, den leichten Stuhl hinter sich herschleifend? Der Vater, der im Freien wieder die weiße Stirn unter der Mütze verbarg, tappte, ein wenig unentschlossen, wie mir schien, zwischen den Beeten umher, beugte sich zu den Pflanzen hinab, zwickte hier ein welkes Blatt ab und drehte dort geübt ein Unkraut aus dem Boden, wie man Zecken aus dem Fell eines Hundes dreht. Das Kraut flog mit den Erdklümpchen an seinen Wurzeln im hohen Bogen auf den Komposthaufen, solch ein Wurf gelang dem Alten noch punktgenau. Der Beweglichste im Garten war ein kleiner, zum braunen Skelett abgemagerter Greis, der in seinen Geruch, dem Muff niemals gewechselter Kleider, wie eingemauert war, ein Junggesellen-Onkel, der immer auf dem Hof gelebt hatte und sich durch kleine Handreichungen, mehr war ihm nicht mehr möglich, sein Bleiberecht verdiente. Er hatte einen langen dünnen Stab, dünn und leicht wie seine Knochen, mit dem er einen ruhelosen Krieg gegen die Vögel, vor allem die Krähen, führte, als lebende Vogelscheuche mit Luchsaugen von nie ruhender Wachsamkeit. Wenn die über dem Garten im warmen Aufwind segelnden Vögel Anstalten machten, sich in Richtung auf das Karottenbeet herabzusenken, war er mit schnellem Staksschritt schon zur Stelle und schwenkte den dünnen Stab wie einen Verbotszeiger.
    »Der Onkel ist ein braver Mann, er ißt nichts und trinkt nichts und raucht nicht und wollte nie eine Frau. Er wohnt in der Kammer hinter dem Ziegenstall und liest die alten Heftchen, die der Pfarrer ihm einmal gegeben hat – in der Religion kennt er sich aus, er hätte selber Pfarrer werden können –, na, vielleicht doch nicht. Die Leute hier haben gern richtige Männer als Pfarrer.« So Annas Übersetzung der Worte ihres Vaters. Sie blickte mich dabei so frei und offen und mit blitzenden Augen an, daß die Vorstellung, sie sei eine notorische Lügnerin, die immer und bei jeder Gelegenheit die Unwahrheit sage, ohne damit eigensüchtige Zwecke zu verfolgen, l’art pour l’art lügend, ganz unwahrscheinlich wurde. Vielleicht erlahmte sie in ihrem verrückten Vorsatz von Zeit zu Zeit? War es nicht anstrengend, darauf zu achten, daß man sich kein wahres Wort entschlüpfen ließ?
    Und Anna machte tatsächlich Ausnahmen, wie mir Ivana später gestand. Sie log nur, wenn es sich um etwas Gutes, Erfreuliches handelte – sie erfand, daß die Kuh ein gesundes Kalb geboren habe; war es tot, dann sprach sie die Wahrheit, ohne deshalb beim Vater, der diese Gesetzmäßigkeit nicht durchschaute, besser wegzukommen. Er hatte stets gehofft, daß auch das Schlimme, das sie verkündet hatte, gelogen sei, und empfand es als besondere Heimtücke, wenn es dann doch eingetreten war.
    Mit Abstand betrachtet, bewegten sich die vier Menschen wie Schachfiguren zwischen den kleinen eckigen Feldern, wobei die Mutter hier nicht die Dame, sondern der König war, die uneinschätzbare ruhende Potenz; der Vater hingegen wanderte wie ein Bauer immer nur ein Feld voran, wo er sich wieder bückte und innehielt; der Onkel war der Läufer, in großen Diagonalen das Spielfeld des Gartens durchmessend und dort, wo die Krähen aufflogen, wie vor einer unsichtbaren Mauer anhaltend und in die Lüfte blickend, wo die schwarzen Diebe die schweren Lappen ihrer zerfledderten Flügel schwangen. Anna aber hatte die ruhige, geradlinige Bewegung des Turms. Sie pendelte zwischen Haus und Garten, holte etwas von dort, brachte etwas dorthin, erschien schließlich mit der bewußten rosa Plastikschüssel mit warmem Wasser, über dem Arm ein Handtuch, in der Kittelschürzentasche die Seifendose. Ein sonderbarer Gedanke kam mir, als ich sie vor ihrem Vater knien und seine knochig-knotigen Füße einseifen sah: War es möglich, daß ein Mensch log, der anderen die Füße wusch? Diese Welt war sich gleichgeblieben und doch zugleich verzaubert, weil in ihr nicht mehr wie vor kurzem noch bis zur Selbstvernichtung gearbeitet wurde.
    Bei der

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