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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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nahe, aber der eigentliche Riesenschritt der Geschichte, der ihr Leben unwiderruflich anders hatte werden lassen, für den gab es kein Wort, der hatte mit Serben und Muslimen und Kroaten auch nichts zu tun. Der war über alle diese einander spinnefeindlichen Völkerschaften gleichgültig und unwiderstehlich hinweggegangen.
    Die Erlebnisse des Tages waren zu starkfarbig und anschaulich gewesen, die vergaß man nicht. Die Greuel beschäftigten die Phantasie. Ivanas Mutter trug auf dem Handrücken ein tätowiertes Kreuz als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur römischen Kirche. Die serbischen Partisanen hatten solche Kreuze, wenn sie dergleichen bei kroatischen Bäuerinnen fanden, mit dem Taschenmesser herausgeschnitten – zum Glück nicht bei Ivanas Mutter, bei ihr legte nicht eine Narbe, sondern das heilige bläuliche Zeichen selbst Zeugnis ab, wohin sie gehörte, aber als Ivana deutlich nach dem Krieg geboren wurde, gab die Mutter ihrer Tochter einen Namen, der bei Serben und Kroaten gleichermaßen zu finden war. Bei den Serben sogar noch häufiger, zu tief hatte sich der Nachteil, Kroate zu sein, ihr eingeprägt.
    Und über solchen Bildern – wie sollte das Bilderlose sich da bemerkbar machen? Innerhalb weniger Jahre hatte sich nach dem Krieg ihre Lebensform, nein, nicht geändert, sie war umgestürzt worden. Wenn Deutschland teilweise kommunistisch beherrscht wurde, dann war dieser Umsturz der bürgerlichen Verhältnisse nichts gegen die gewaltige historische Revolution, die in dem Tal eintrat, wo die Mestrovics lebten: das Ende der Steinzeit, das Ende eines Lebens, das man sich anders, als man es führte, keinen Augenblick lang hatte vorstellen können. Und wahrscheinlich war diese Lebensform, dies vieltausendjährige In-der-Sippe-Zusammenhausen und gemeinsam die Not eines knappen Überlebens Bewältigen erträglich auch nur gewesen, weil sie die einzig mögliche, die einzig vorstellbare war. Es war eben keine Lebensform, denn schon im Wort Form steckt die Möglichkeit, sie könne auch anders aussehen, es war das Leben selbst, das sie führten, sein Gegensatz war der Tod.
    Ihre Welt war abgeschlossen. Der entfernteste Punkt war die Kleinstadt mit ihrem Markt, wo man für reale Sachen wie Butter und Eier das seltene, kostbare Geld bekam, aus dem die Mutter einen Überlebensschatz sammelte, ein äußerstes Mittel gegen stets zu erwartende, unvermeidliche Katastrophen. Was dachten die beiden Alten, wenn sie ihre Füße nach der Gartenarbeit in die rosa Plastikschüssel stellten – was war das für eine Schüssel, woraus bestand sie, wer hatte sie gemacht? Bis zum Jahr neunzehnhundertachtundsechzig ungefähr hatten sie bei jedem Stück ihres Haushaltes angeben können, woraus es bestand, und hatten gewußt, wie man es herstellte. An die rosa Plastikschüssel wurden Fragen dieser Art nie gerichtet. Sie war da, sie kostete sehr wenig, sie war leicht, sie war unzerbrechlich. Die großen Tonschüsseln konnte man, wenn sie zerbrachen, zwar gut reparieren – die zerbrochenen Scherben wurden mit einem harten Bohrer durchbohrt und dann mit Kupferdraht fest aneinandergezwirbelt –, aber solche Künste fielen jetzt weg, sie waren überflüssig, und die Farbe der neuen Schüssel war schöner als alles, was man selbst hätte färben können. Wenn die Sonne in sie hineinschien, glühte sie wie ein rosiger Edelstein. Das Kostbare war zugleich billig, das wäre die Erfüllung eines Traumes gewesen, wenn in der nüchternen Mestrovic-Familie unerfüllbaren Träumen nachgehangen worden wäre.
    Daß im Nachbarhaus, nicht weit entfernt, das Zeltdach als pyramidenhaftes Erinnerungsmal aus dem Grün ragend und sich vor dem Waldhügel abhebend, die Muslimfamilie lebte, die Familie des längst dahingegangenen und unvergessenen Mannes mit der Axt, das stand als Kontinuum vor den Augen der Eltern Ivanas und lenkte sie davon ab, daß diese Nachbarschaft das einzige war, das gleichblieb, während alles andere sich geändert hatte. Das Schicksal der beiden Alten war mit dem von Monarchen zu vergleichen, die als Kinder schon, allseits begrüßt, auf den Thron gelangt sind, in einer geradezu endlos erscheinenden Vorfahrenreihe stehen und nach menschlichem Ermessen auf dem Thron zu sterben bestimmt sind – bis plötzlich die Geschichte sie mit zwei Fingern ihrer monumentalen Hand von diesem angestammten Ort hinwegnimmt und in den untätigen Luxus einer Villa an der Côte d’Azur verbannt, wo sie nun in Sicherheit, wohlgenährt, vergessen

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