Das Blutbuchenfest
Gesicht zu erinnern. Sie ist wahrscheinlich ein hübsches Mädchen mit sehr weichen, nicht besonders spezifischen Zügen gewesen, die im Alter etwas verwischt waren. Ihre Töchter hatten das Gesicht des Vaters geerbt. Das entsprach auch der Ordnung im Hause Mestrovic, wo alles, bis hin zu den Backsteinen, das Gepräge des Patriarchen zu tragen hatte. Er saß neben ihr, als ich eintrat, aber er war beweglich geblieben, ein kleiner Mann, die männliche Version von Ivana, daß es fast zum Lachen war. Weil er draußen stets eine Mütze trug, war seine Stirn mit scharfem Strich in eine mahagonibraune und eine milchweiße Hälfte geteilt. Das Venus-Lächeln, das auf Ivanas Lippen so selten erschien – dann aber um so bestrickender wirkte –, verließ ihn nie, auch wenn es dafür keinen Anlaß gab. Es war, als lächle er auch im Dunkeln. Jetzt, wo die wüste, geradezu selbstzerstörerische Arbeiterei von ihm abgefallen war – unbegreiflich genug –, konnte ich mir wieder vorstellen, was Ivana erzählt hatte: daß er gern Geige gespielt habe mit seinen breiten Pratzen, daß er bei Hochzeiten unentbehrlich gewesen sei mit seinem Fiedeln und sich mit der Geige sogar unter die Tanzenden gemischt habe, zur eigenen Musik sich wiegend und drehend.
Vieles hatte die Mestrovic-Familie erlebt und überlebt in den letzten fünfzig Jahren. Der Vater war kein Ustascha-Mann gewesen, kein Soldat der politischen Separatistentruppe, die gegen das serbisch dominierte Königreich Jugoslawien kämpfte, er war nur Domobran – »Heimwehr-Soldat« in den schlimmen Jahren des Krieges mit Partisanenkämpfen und Massakern unter Zivilisten, endend in einem Nicht-Krieg, einem Einfrieren des Hasses, der sich in künstlicher Erstarrung frisch und lebensfähig erhielt, um bei leichtem Tauen des Repressionsfrostes sofort wieder auszuschlagen und Keime zu treiben. Dem serbischen Parteisekretär war es gleichgültig, ob die Mestrovic-Männer bei der Ustascha gewesen waren oder nur Domobran-Soldaten.
Auf der Kredenz stand ein Foto des jungen Mestrovic mit Soldatenmütze, auch damals unternehmungslustig in eine Welt lächelnd, die Prüfungen für ihn bereithielt. Ein anderer wäre an ihnen zerbrochen, aber die Mestrovic-Familie war auf Extremansprüche hin konstruiert, hunger- und kältefest, durch soziale Ächtung unbeeindruckbar, ein Stamm, der schikaniert, aber nicht besiegt werden konnte. »Leck den Schweinetrog«, rief Ivana dem Parteisekretär nach, dem sie den Zwanzigliterballon Sliwowitz als Tribut ins Haus tragen mußte. Eins war sicher: Keine Rechnung verfiel, keine Untat wurde vergessen, alle Akten lagen im Gedächtnis zur Wiedervorlage bereit. Der Muslim – ein Mann ohne Namen, aber er hatte in nächster Nachbarschaft gewohnt, seine Familie lebte noch dort – war zur Erntezeit mit der Axt in der Hand in der Kochhütte aufgetreten, um seinen Anteil einzufordern. An den verschlossenen Gesichtern der Mestrovic-Familie vorbei wurden die Säcke mit Kartoffeln und Mehl aus den Vorratskellern auf den muslimischen Leiterwagen getragen.
Die großen historischen Bewegungen dieser Jahrzehnte, die Auflösung des Habsburgerreiches, die unheilverkündenden Zwischenkriegsjahre, der Krieg, die Gründung der Republik Freies Kroatien, bei der Hitler seine treuen Verbündeten um Dalmatien prellte – darauf hatte Mussolini seine Hand gelegt – die Gewaltherrschaft des Marschalls Tito, sein Jonglieren zwischen Rußland und Nordamerika, dies alles war ausschließlich aus der nachbarschaftlichen Sphäre heraus erlebt worden. Die politischen Großereignisse hatten stets Verschiebungen in der unmittelbaren Nachbarschaft, im Dorf, in der Kleinstadt zur Folge gehabt. Die Mestrovic-Familie hatte beinahe immer auf der falschen Seite gestanden. Ihr Vorteil waren einzig Geduld und Beharrungskraft und ein stilles, starkes Bewußtsein, die besseren Leute zu sein, das hatte sie durch das gefährliche zwanzigste Jahrhundert kommen lassen. Aus jeder Phase wußten Vater und Mutter Schrecknisse zu erzählen, ohne große Teilnahme, lächelnd, was den Vater anging, die Mutter konnte doch auch finster werden im verwischten Gesicht.
Aber vor dem eigentlich Großen, dem überwältigenden Ereignis dieses wilden Jahrhunderts waren sie blind, oder besser sprachlos geblieben. Die Tagespolitik, die Zeitgeschichte war wie ein nicht enden wollender Film an ihnen vorbeigezappelt, und oft genug hatten sie mitzappeln müssen, und oft genug lag das Ende aller Zappelei zum Greifen
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