Das Blutbuchenfest
S-Bahn verhielt es sich anders. Hier war es vielleicht wirklich einmal so: die eigene Schönheit war ihr unsichtbar geblieben, und deshalb dachte sie nicht daran, irgendeinen Vorteil daraus zu ziehen. Und offenbar ging man mit der Zarten auch nicht immer zart um. Schlimmes hatte in dem leuchtenden Brief gestanden, etwas, wovor sie sich nicht hatte schützen können. Wie willkommen wäre es mir gewesen, die Tränen dieses Mädchens zu trocknen und sie von ihrem Kummer abzulenken. Sie schien sich mühelos auf ihrem Rechner zu bewegen, mit den Fingerspitzen zu denken, gleitende, fixe Gedanken, die sich den Fakten anschmiegten wie ein Handschuh. Ein solches Mädchen müßte ich als Gehilfin für die Mestrovic-Ausstellung gewinnen, solch eine schnell bewegliche Elfe, einen weiblichen Ariel, der durch lautlose Berührung der Tastatur alles Gedachte sofort in Wörter und aus Wörtern in Taten verwandelte. Am Ende war sie sogar Kunsthistorikerin, sprach gewiß viele Sprachen – das war der polyglotte Mädchentyp – jetzt sprach ich schon von einem Typ, eben war sie noch die einzige gewesen – bei Mestrovic allerdings würde das Serbokroatische eine Rolle spielen – sich einer Sprache bedienen zu müssen, die solch ein künstliches pseudowissenschaftliches Binde-O in ihrer Mitte aufwies! Wir müssen uns schließlich auch nicht auf austrogermanisch oder helvetoteutonisch unterhalten. Solche Gedanken wären ihr aber sicher fremd – zum Glück, Historisch-Kulturkritisches lag einem solchen Wesen fern. Die Welt war für sie, wie sie immer gewesen war, von herrlicher Jetztzeit, und alles, was es in dieser Welt gab, hatte ein Recht darauf, dazusein und nicht benörgelt zu werden. Man sieht, wie der bloße Wunsch, mit dieser in den unergründlichen Tiefen der kleinen großen Stadt Entschwundenen, wo es so viele Milieus gab, die sich nie auch nur berührten, mit diesem Kind etwas gemeinsam zu haben, mich schon viel tiefer in das Mestrovic-Projekt hineinführte. Eben war das noch eine höchst unsichere Möglichkeit gewesen, jetzt suchte und besetzte ich sogar schon die passende Assistentin.
Viertes Kapitel
Bosnische Einkreisung
Für die erste Vorbereitung ging es nun darum, überhaupt einen Eindruck von meinem Meister zu gewinnen, mit Wereschnikows »Ethno-Art-Déco« käme ich kaum sehr weit. Aus der Bibliothek hatte ich mir ein paar Kataloge verschafft. Es gab gar nicht wenig. Wem es gelingt, zum Nationalkünstler eines kleinen Volkes zu werden, der hat die Gefahr der Vergessenheit besiegt. Denkmäler sind haltbar, und selbst in unseren unfriedlichen Zeiten hörte man nicht davon, daß auf dem Balkan aus Statuen Kanonen gegossen worden wären; die kauft man heute aus dem Katalog, kein Waffenembargo hat einen der neueren Kriege verhindert.
Beim flüchtigen Blättern kam mir diese Kunst nicht entgegen. Sie gefiel mir nicht, wenn ich mir dies höchst unprofessionelle Wort erlauben darf, das für einen Kunsthistoriker schon gar keine Rolle zu spielen hat, für den Grad der Aufmerksamkeit, mit der er sich seiner Sache widmete, aber doch entscheidend sein mag. Mestrovic hatte Rodins große Zeiten in Paris erlebt, das war sofort ersichtlich, auch ohne die biographische Notiz im Anhang, die diesen Eindruck bestätigte. Aber dann kamen andere Einflüsse hinzu; was immer plastisch in Europa entstand, hatte Spuren im Werk des kroatischen Bauernjungen hinterlassen, der immerhin als Untertan eines großen Reiches geboren war, wenngleich an dessen Peripherie, aber noch ganz ohne jene nationalstaatliche Enge, die den Völkern unter dem Kaiser Franz Joseph als derart begehrenswertes Traumziel erschien, daß sie nicht ruhten, bis sie verwirklicht war. Zunächst allerdings noch nicht ganz: Das säuberliche Sortieren der Völker war noch nicht an ein Ende gelangt, nur weil die Donau-Monarchie untergegangen war. Der große Völkerkerker war zu mehreren kleinen Völkerkerkern geworden, die nun auch noch gesprengt werden wollten. In der Tschechoslowakei – wieder das Unheil verheißende Bindungs-O! – fühlten sich die Slowaken von den Tschechen unterdrückt, in Rumänien klagten die Ungarn über das Wallachen-Joch, während die Siebenbürger und Banater Deutschen schweigend das Land verließen, und in Jugoslawien fühlten sich die Slowenen, die Kroaten, die Mazedonier, die Albaner und Montenegriner als Gefangene und Knechtsvölker der Serben und rüttelten an den Ketten. Die kleinen Länder, die einst Teil eines Kaiserreichs gewesen
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