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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Geräusch aus ihrer Kehle auf das Kind. Was hätte sie mit ihrer Nichte gemacht, wäre sie mit ihr allein gewesen? Aber so kamen Männer gelaufen, die in der Nähe geraucht hatten. Alles war wieder aus der Schreckensstarre erwacht. Es wurde geschrien und geschlagen, gerannt und übereinandergefallen. Um Ivana und die Nichte bildete sich ein zappelnder Menschenhaufen. Ivana konnte von dem Kind getrennt werden, aber die beiden mußten auseinandergerissen werden, wie man Stoff zerreißt. Ein Haarbüschel des Mädchens blieb in Ivanas Hand zurück. Vom Haus her trieb eine Wolke mit dem Geruch gerösteten Fleisches über die Wiese. Das Unglück wurde in eine Woge würzig-ranzig-appetitanregend-appetitverschlagenden Rauchs getaucht. Die Rumunsch wurden zum Schweigen gebracht, die Musik verstummte, nur eine Saxophonphrase dudelte hinterher. Der Mann mit dem Saxophon hatte als letzter verstanden, daß jetzt Schluß war mit dem Tanz.
    Ich ging weg vom Mestrovic-Gehöft, ich wollte mich unsichtbar machen, die Leute von der Notwendigkeit befreien, sich noch mit einem Gast zu beschäftigen. Aus dem ummauerten Geviert strömten mir die Menschen entgegen. Alles eilte zur Unglücksstelle. Die Mienen waren verschlossen. Auf dem Hof blieben Mirko und seine Braut zurück. Ihre eben noch lebhaften, hübschen Gesichter über dem Feststaat waren ohne Ausdruck, es gab nichts in ihrer beider Gefühlshaushalt, das dem Geschehenen angemessen gewesen wäre. In Abstand zu ihnen saß die Mutter auf ihrem Stuhl. Überlegte sie, ob dies ein Anlaß sei, der sie zwinge aufzustehen? Was die Leute ihr vom Hoftor aus zuriefen, überzeugte sie aber wohl, daß das Geschehen unabänderlich war, und so blieb sie sitzen, nur die im Schoß gefalteten Hände sanken auseinander.
    Daß dies kein Zeichen von Teilnahmslosigkeit oder seelischer Gelassenheit war, erfuhr ich beim Totengottesdienst am nächsten Tag. Ivana blickte während des Betens und Singens von Priester und Gemeinde mit der gespannten Aufmerksamkeit einer Fremden um sich. Sie war nicht ansprechbar, wie in Trance. Daß es in ihr kochte, war für mich nur ganz kurz an der Grobheit erkennbar, mit der sie Stipos Arm wegstieß. Bis dahin fand ich sogar etwas Listiges, wie auf eine Überraschung Gespanntes in ihrem Ausdruck, aber welche Überraschung sollte das sein? Branko würde sich nicht unversehens in seiner kleinen weißgestrichenen Schachtel bewegen.
    Was den Gottesdienst aber geradezu unerträglich machte, war der Klagegesang von Ivanas Mutter, die auf ihrem Stuhl festgewachsen von zwei kräftigen Männern in die Nähe des Altars getragen worden war. Ich verstand zunächst nicht, woher das dauernde Sprechen, das Hineinplappern in den Gottesdienst kam, das unbeirrt und in einer sehr hohen Stimmlage, wie der eines kleinen Kindes, jeden Augenblick der Stille füllte und auch, wenn gesungen wurde, nicht verstummte. Wer konnte so taktlos sein, bei einer solchen Totenfeier, die alle Anwesenden sichtlich ergriff – Mirko und seine Braut, das schöne Paar von gestern, mit blassen, leeren Gesichtern in einer eher angstvollen als bedrückten Trauer –, wer störte und schwätzte? fragte ich mich, wobei ich wußte, daß man rund ums Mittelmeer von weihevoll ergriffenem Schweigen und trauriger Andachtsstimmung nicht so viel hält wie im Norden.
    Und dann erkannte ich, daß es Ivanas Mutter war, die sprach, mit einer eigenen, diesem Anlaß zugedachten Vogelstimme, die sie mit rhetorischen Gesten begleitete. Es war, als locke sie den kleinen Sarg zu sich, als versuche sie ihn zu überreden, sich von seinem Katafalk zu heben und zu ihr geglitten zu kommen. Es war ein Wimmern, ein Betteln, gelegentlich ein Quieken in diesem Klagen, auch ein geschäftiger Eigensinn, der sich von den Zeremonien des Priesters mit Weihwasser und duftendem Rauchfaß nicht ablenken ließ. Das Mechanische ihres Singsangs hatte eine Funktion, so wollte mir scheinen, er hatte womöglich etwas Betäubendes. Ich entdeckte in ihrem spitzen, hohen, singenden Sprechen die schlaue Berechnung eines plärrenden Kindes, das, während es schreit, in den Gesichtern der Eltern zu lesen versucht, ob das Geschrei schon zu wirken beginnt. Aber diese Hartnäckigkeit, diese Rücksichtslosigkeit war vergebens; Branko war tot und blieb tot. Ivana blickte auf ihre Mutter mit abweisender Kälte. Die Mutter mußte den Enkel allein beklagen. Sie würde sich erschöpfen müssen, die Überanstrengung ihres schneidender werdenden Tirilierens würde

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