Das Blutbuchenfest
schließlich in Verstimmung umschlagen, wenn die Strapaze die Verzweiflung schon matter werden ließ und die Empörung über diesen Tod wie ein Feuer in sich zusammensank. Vorher war die Trauer ein Brand, jetzt würde sie ein weiter Pechsee ohne Feuer, denn der Innenraum der Empfindung übersteigt die Grenzen des Körpers bei weitem. »Die Liebe ist stärker als der Tod«, sagte der Priester, aber zumindest zwei in seiner Gemeinde glaubten ihm nicht: Ivana und ihre Mutter – die Liebe war höchstens für eine Weile ebenso stark wie der Tod, aber zum Schluß war der Tod der Stärkere.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Erste Hilfe
Beate Colisée brauchte eine Weile, um zu verstehen, daß sie allein in der Wohnung war. Aber wie war das möglich? Eben noch waren die Räume voller Menschen gewesen, von Stimmen und von Staubsaugerrauschen erfüllt, in dessen Meeresbrausen die Stimmen einsanken wie die von Ertrinkenden, aber wenn sie einen Namen rief, so schallte ihr von irgendwoher eine Antwort entgegen. Wo war Ivana? Verschwunden. War sie nicht verpflichtet, mehr oder weniger immer dazusein? Die Zeiten kamen allerdings durcheinander; soeben war Frau Colisée aus der Seniorenpension Angelika nach Hause zurückgekehrt, nicht auf eigenen Wunsch, was sie zum Glück nicht mitbekam, sondern weil die Angestellten des Hauses ihren Umzug erzwungen hatten, in solche Unruhe hatte sie die weitläufige, mit Edelhölzern getäfelte Wiesbadener Villa versetzt. Winnie war gerufen worden, aber nur noch zum Kofferpacken.
Das Mädchen fand die Formel, mit der Beate Colisée sich anfreunden konnte: »Wir müssen hier weg!« Das war eine Devise, die keiner Begründung bedurfte. Sie erinnerte von fern an Kriegszeiten, wo das Berliner Atelier Topell, in dem Beate Colisée ihre Kunst erlernt hatte, mehrfach ausgebombt worden war. Diese Bilder kehrten jetzt zurück und behaupteten eine größere Wirklichkeit als die Gegenwart, übrigens keineswegs bedrohlich; es waren nicht nur die Kriegsumstände, die ihr präsent wurden, sondern auch ihre damals muntere, in den Tag hinein lebende Geistesverfassung, die nicht zum Nachsinnen über die Katastrophen neigte, sondern das Nächstliegende anpackte. Aber es war eben immer Winnie, der es gelang, noch einen Zugang zu ihr zu finden. Immer mußte Winnie herbeigerufen werden, wenn Beate Colisée jede weitere Bewegung verweigerte. Mit liebeüberströmendem Auge sah sie auf das zarte Mädchen, das sie völlig zu Recht »das Kind« nannte, dies ihr in allem so äußerst entgegengesetzte Lebewesen. Winnie, »dünn wie ein kleiner Finger«, wie Beate zärtlich sagte, und sie selbst mit ihrer Tonnenschwere. Maria Theresia, Katharina die Zweite und die indische Empress Victoria, die mit ihren Körpern ein Äquivalent zu der Landmasse ihrer Imperien darstellten, hätten sie als Schwester erkannt. Dies Gewicht war langsam aufgebaut worden, durch verstohlene Zwischenmahlzeiten, durch Schokoladetafeln im Nachttisch, durch nächtlichen Heißhunger überhaupt, der in der Traumsphäre aufgehoben war und nicht recht ins Tagesbewußtsein drang, ein listiges, die Sättigung überwindendes jahrzehntelanges Mästen, das durch gelegentliche Hungerkuren qualvoll genug und ganz vergeblich unterbrochen wurde. Jetzt, wo die Fettheit unüberbietbar geworden war, mußte gar nicht mehr viel nachgeschoben werden, im Gegenteil. Beate Colisée durfte bei allem Genuß am Essen maßvoll sein und sogar ein bißchen wählerisch, damenhaft, und wenn die fetten Händchen anmutig abwehrende Gesten machten – »Nein danke, keine petits fours mehr« –, sah das besonders rührend aus. Und gerade Winnie hätte jedermann versichert, ihre Tante sei mit dem Essen sehr vorsichtig und müsse gelegentlich sogar überredet werden, etwas zu sich zu nehmen.
Ein Schauer überlief Beate Colisée, als sie verstand, daß die großen lichtdurchfluteten Zimmer um sie herum keine einzige Menschenseele enthielten. Sie lag auf ihrem breiten Bett wie auf einem Katafalk. Sie befand sich in ihrer Grabkammer. Und wo war die Katze? War da nicht stets auch eine zutrauliche und zärtlichkeitsbedürftige Katze gewesen, Winnies Katze, die das Mädchen mitgebracht hatte, obwohl es erst ein großes Geschrei gab – »Keine Tiere auf der Etage! Keine Kästen voll Sägespäne und Katzenpisse!« Wer hatte dies Geschrei wohl ausgestoßen? Beate wußte genau: Es hatte diesen Protest gegeben, er war in diesen weiten Räumen verhallt, denn dann hatte nur die Gegenwart dieser
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