Das Blutbuchenfest
die leichtfertigen, schon während der Fahrt dudelnden Musikanten trug, war, als er sich dem Gehöft näherte, für mich der Inbegriff längst vergangener, mir für immer verschlossener Festlichkeit gewesen.
Es hatte mich erstaunt, daß man keine Bedenken hatte, die gewichtigen Wagen an dem zum Teil abschüssigen Hang abzustellen. Dicke Felssteine wurden unter die Räder geschoben und hemmten die Talfahrt, aber gab es da nicht doch ein Mißverhältnis zwischen einem solchen Brocken und der hinab in die Tiefe strebenden Masse? Physikalisch mochte der Stein als Bremse genügen, aber wußte der Wagen, daß er nach den Gesetzen der Physik unbeweglich zu sein hatte? Eine Frage, die in ihrer Verrücktheit schon gezeichnet ist von dem, was ich untätig und unbeweglich mit ansah.
Unbewegte Bewegerin habe ich Ivanas Mutter auf ihrem Stuhl genannt, eine philosophisch-theologische Formel, die sich der Anschaulichkeit verweigert. Aber jetzt sah ich ihn, den unbewegten Beweger, vielmehr ich sah ihn nicht, aber ich sah, was es bedeutet, wenn ein unsichtbarer Finger das Unbewegte, Unbewegliche anschiebt.
Still stand der Leiterwagen, als sei er sein eigenes Denkmal, eben noch still bis in die Ewigkeit, wenn er nicht angeschoben würde, und dann setzte er sich unversehens, ohne daß ein Grund dafür erkennbar gewesen wäre, in Bewegung. Er ächzte ein wenig. Ein Schauer überlief seine Stangen und Planken, als ob ein schlafender Riese die arthritischen Gelenke reckte. Und dann rollte er los. Die Gummireifen begannen sich zu drehen, langsam zunächst – die Vorstellung, der Wagen werde angeschoben, war geradezu zwingend –, und dann war das Hindernis des Eingeschlafenseins überwunden, und die Räder drehten sich mühelos. Er wurde munter. So schwer er war, so leicht, so hasenartig hoppelte er über die Weide. Und jetzt stiegen Schreie auf. Ich blieb stumm, tat nur einen hilflosen Schritt nach vorn. Ich war die Verkörperung aller Nutzlosigkeit. Wozu dienten meine Augen, wenn sie keine Handlung in mir auslösten? Aber was hätte ich tun sollen? Keine Menschenkraft konnte den Wagen aufhalten. Er würde alles überwalzen. Die spielenden Mädchen mit ihrem Gummiseil schafften den Sprung zur Seite ganz knapp. Zwei fielen dabei hin und lagen flach auf dem Boden, während das Gefährt vorbeitanzte. Und in seiner Bahn stand der Korb mit Branko, und keine Hand war zur Stelle, die ihn zur Seite gerissen hätte. Sekundenbruchteile öffneten sich zu ewiger Dauer – noch war alles gut, warum konnte es nicht so bleiben?
Wenn jeder Augenblick ewig ist, dann ist auch das Böse ewig. Was nicht geschehen durfte, geschah. Wir alle, die wir dem Unheil Spalier standen, wurden mit der Nase darauf gestoßen. Das linke Vorderrad überrollte Brankos Korb. Das brachte den Wagen nicht ins Wanken, das Hindernis fiel bei seinem Gewicht nicht in Betracht. Das Körbchen wurde hinter dem Rad hervorgeschleudert, schon ganz zerquetscht und dem Hinterrad unmittelbar entgegen. Und auch das Hinterrad durfte noch einmal zermalmen, was schon zermalmt war. Und der Wagen schoß weiter. Tief unten raste er in ein anderes Fuhrwerk. Jetzt erst tat es den großen Knall. Planken flogen durch die Luft. Ein gräßliches Bersten und Krachen fuhr uns in die Glieder. Die Trümmer wurden weithin geschleudert, beide Wagen waren zersplitterte Wracks, als Gefährte nicht mehr zu erkennen, ein unordentlicher Scheiterhaufen.
Während sich noch niemand der Umstehenden rührte, die ins Gras gefallenen Mädchen noch nicht wagten, ihren Kopf zu heben, und ihn ins Feucht-Grüne gedrückt hielten, kam Ivana aus dem Haus gelaufen. Zum letzten Mal bewährte sich die unsichtbare Nabelschnur. Ich glaubte ihr, als sie mir später sagte, es seien weder die Schreie noch der große Knall gewesen, was sie aus dem Küchenzank mit Anna, der Lügnerin, herausgerufen hatte. Sie sei innerlich nach der Wiese hingezogen worden.
Was sie in dem geplatzten Körbchen fand, das habe ich nicht gesehen, und noch größere Angst hatte ich davor, Ivana ins Gesicht zu schauen. Die roten Tränen, wann wären sie eher am Platz gewesen als jetzt?
Ivana sah von dem überwalzten Korb auf, ihre Hände waren voll Blut. Ihr Blick fiel auf die kleine Nichte, die Tochter ihres Bruders, die das Körbchen bewachen sollte und die es aus dem Baumschatten hervor in die Bahn des Leiterwagens gezogen hatte. Sie ließ den aufgeplatzten Körper ihres Sohnes fallen, erhob sich aus der Hocke und stürzte sich mit einem rauhen
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