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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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dicken Goldrahmen, es trat daraus schnaubend und zutraulich hervor. Den Überschwang eines solchen Fundes weithin zu verbreiten – war das so unverzeihlich? Für Guggisheim ja – aber durfte Wereschnikow diese Freude einfach lächerlich finden?
    Ich wandte mich ihm zu und tippte ihm auf die Schulter. Er sah sich um und war nicht eine Spur überrascht.
    »Wir sprechen gerade von Ihnen.«
    »Das habe ich gehört.«
    »Sehen Sie«, Wereschnikow richtete sein Wort wieder an Doktor Glück, »er bestätigt es.«
    Ich war nicht einfach nur vor den Kopf gestoßen – nein, mein Verhalten gegenüber dieser Unverfrorenheit war für mich grundsätzlich bezeichnend. Ich habe der nackten Unverschämtheit nichts entgegenzusetzen. Man kann das verächtlich finden, man darf mich einen Waschlappen nennen – was in Rotzoffs Kreisen mit Gewißheit auch geschieht –, aber ich weiß es besser: Es ist ein staunendes Hingerissensein, das mich dann befällt. Ich trete gleichsam aus mir heraus und betrachte die Szene, in die ich da involviert bin, wie durch ein Mikroskop. Wie sich in dem Wassertropfen da alles beißt und frißt und manche kleinen Wesen nur zum Verschlingen und andere nur zum Verschlungenwerden dazusein scheinen. Wereschnikow sah mich nicht ohne Wohlwollen an. Er war der Meister im Überwinden jeder Peinlichkeit, der Mann, der in seinem Leben noch nie etwas für ihn Nachteiliges abgestritten hatte – zugeben, alles zugeben, das hätte sein Lebensmotto sein können.
    Aber in meiner Anwesenheit verlor meine Person als Gesprächsthema sofort an Interesse. Ein Schmerzenszug zeichnete sich wieder um seine Mundwinkel. Er war unzufrieden mit mir, gewiß, weniger mit meinen Leistungen als mit meiner ganzen Person, aber dies war eine Lebenslast, die zu einer anderen, größeren nur noch hinzukam; es überwältigte ihn nun auch wieder eine innere Unruhe. Er war in Gedanken schon weit weg, als er aufbrach, seine Augen erfaßten mich kaum; an Glück allerdings wandte er sich – überraschend noch einmal zurückkehrend – mit eruptiver Herzlichkeit: »Wir sprechen! Wir sprechen!« rief er, als habe er Glücks täppische Versuche, ihn am Tisch zu halten, abzuwehren.
    Glücks Blick rutschte von Wereschnikow weg und blieb an mir hängen. Morgen sei Sonntag. Es werde wahrscheinlich warm. Ein paar Freunde wollten sich in seinem Garten treffen. Ob ich nicht dazukommen wolle? Es war schon klar, daß die paar Freunde selbst entschieden hatten, zu Glück zu kommen, aber dazuladen durfte er dann wohl doch.
    Mir fiel auf dem Heimweg durch die stille Stadt, die von bosnischen Wirren, bosnischen Unglücksfällen, bosnischer Weiträumigkeit und bedrohlicher Leere nichts wußte, wieder ein, wie ich Winnie nannte, kurz nachdem ich sie kennengelernt hatte und sie mir wieder entschlüpft war: Euer Unerreichbarkeit. Das war sie und das blieb sie. Bei Tante Beate zu klingeln verbot sich so spät – warum eigentlich? Für sie waren doch alle Stunden des Tages gleich. Sie gehörte doch zu den Menschen, die am allerwenigsten nach dem Rhythmus der Tageszeiten lebten. Da war der Erziehungsreflex stärker: Nachts um zwölf schellte man eine alte Dame nicht heraus.
    Und hatte ich eigentlich ein Recht auf forderndes Betragen, Pochen auf Winnies Gegenwart, Anteilnahme, Zuverlässigkeit? Hatte ich nicht eisern vermieden, in unserem Zusammensein ein einziges verbindliches Liebeswort zu sprechen? Ich glaubte damit vor allem ihrem Bedürfnis nach Diskretion zu entsprechen, einer kindlichen Abneigung gegenüber feierlichen Deklarationen. Zwei nackte Körper, von einem Leintuch bedeckt, wortlos aneinandergeschmiegt, besagte das nicht unendlich viel mehr als alle Erklärungen, die sich womöglich noch auf die Zukunft richteten, dieses blasse Gespenst, das noch niemals jemand gesehen hat? Köstliche Nähe in der Gegenwart, wie wäre das zu steigern gewesen?
    War die Gemeinsamkeit einer Gegenwart aber vorbei, dann wäre es für die Erinnerung freilich angenehm und beruhigend gewesen, wenn auch einmal ein verbindliches Wort gesprochen worden wäre. Die luftige Substanz der Sprache, sie hätte unversehens den Charakter von greifbarer Materie angenommen. Auf einen Austausch liebevoll entbrannter Gefühle, die sich zu Absichten und gar Plänen verfestigten, hätte ich, so wollte mir jetzt scheinen, wie auf ein Fundament bauen dürfen; dann wäre eine Verflüchtigung Winnies wie eben gar nicht so bedenklich gewesen.
    Ich begann zu ahnen, daß ich mich vielleicht

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