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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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ich habe bei ihm gearbeitet, als er noch seine Firma hatte.«
    Alles wurde möglich in diesem verzauberten Augenblick, ein schnelleres Denken, ein müheloses Kombinieren von Erinnerungsfetzen, und es war so leicht, es auszusprechen, als liege man allein im Dunkeln und gleite aus dem Träumen unversehens ins Sprechen.
    »Als ich dich damals in der Bahn beobachtet habe: Du weißt schon – beim Lesen einer Nachricht –, was dich da zum Weinen brachte, das war nicht die Katze – stimmt’s?«
    Winnie sah mich nicht an. Ihre Miene rührte sich nicht einmal. Sie ruhte in sich. Sie war mir keine Rechenschaft schuldig. Ich besaß keine Ansprüche auf die Wahrhaftigkeit ihrer Auskünfte. Und was inzwischen geschehen war, hatte gleichfalls keine Ansprüche begründet. Ihre Antwort war deshalb das Zeugnis ihrer Großherzigkeit.
    »Nein, es war nicht wegen der Katze. Er hat so viele Seiten – diese jetzt mit den Vögeln – aber er kann auch –« sie suchte nach einem gerechten Ausdruck, sie wollte nicht etwas Anklagendes sagen: »– sehr hart sein, das setzt mich dann zu …« Sie war in so vielen Sprachen zu Hause, daß sie im Deutschen manchmal kleine Fehler machte, die ich nie verbesserte, weil sie mich entzückten, selbst in diesem Augenblick noch, in dem ich aus meiner hellsichtigen Entrücktheit zurückkehrte und meinte, mir werde das Herz im Leib zusammengedrückt.
    Rotzoff hatte offenbar genug von der Schar seiner Bewunderer. Die Vorlesung war beendet. Er hob die Séance auf. Vielleicht hatte er aus dem Augenwinkel bemerkt, daß ich hinzugetreten war. Er hob eine Hand und durchteilte mit ihr die Lüfte, geradezu wie ein Bischof, der Pilgerscharen seinen Segen spendet. Die Krähen hoben sich in einer einzigen großen Woge vom Boden, von seiner Schulter und aus seinem Schoß, nicht ganz ohne Mühe, schien mir, aber jedenfalls auch ohne Eile, nicht wie Vertriebene, sondern wie Entlassene. Einen Augenblick lang entzogen sie, knapp über der Wiese fliegend, seinen Körper unseren Blicken. Ganz kurz sah es aus, als fielen sie über ihn her, um sich nach ihrer Freilassung gegen ihn zu wenden, aber dann löste sich der schwarze Kollektivkörper in seine einzelnen Elemente auf und strebte auseinander. Die Krähen verteilten sich weithin, sie hatten nichts mehr miteinander zu tun. Rotzoff erhob sich und streckte sich zu einem Gähnen, bei dem er die Gelenke krachen ließ, eine Geste, die ich bei ihm kannte; nichts drückte für mich das kreatürliche Wohlgefühl im Bewußtsein der eigenen Liederlichkeit besser aus. Die Vorstellung, ein einziges Wort mit ihm sprechen zu müssen, überwältigte mich. Ich ließ Winnie und Doktor Glück ohne Abschied stehen und ging in langen Schritten dem Gartentor zu, es hätte nur gefehlt, daß ich tatsächlich davongelaufen wäre.
    Was folgte, ist für mich immer noch zu fürchterlich, um es gelassen darzustellen. Jeder Mensch bewahrt ein Bild von sich, das nicht ohne Not preisgegeben werden darf. Es ist die Basis unserer Selbstachtung; wenn daran gerührt wird, kommt Unvorhergesehenes ins Wanken. Zu einem solchen Bild gehört die Vorstellung unserer seelischen Unmöglichkeiten: einer blinden Bettlerin das Geld von ihrem Tellerchen stehlen – nein, niemals! Man erkennt an diesem Beispiel schon, wie hoch hier die Latte der Verworfenheit gelegt ist: daß man bequem darunter hindurchspazieren kann. Wo man auf Bekundungen von Haß stieß, politischen zumal, war man angewidert, abgestoßen – das war krankhaft, niedrig, stieß den Hassenden aus der Menschengemeinschaft aus. Anders vielleicht aber doch, so sprachen die imaginären Schöffen des mir innewohnenden moralischen Gerichtshofs, mit Haßgefühlen gegen Rotzoff, die nebenbei auf den wohlvorbereiteten Boden der lang angewachsenen Antipathie fielen. Rotzoff durfte ich schon auch hassen, jedenfalls die üblichen Grenzen der Feindseligkeit überschreiten.
    Was brachte diesen Menschen dazu, in meinem Revier zu wildern? War er nicht übermäßig reich versorgt mit jenem erschreckend schönen Mädchen, das sich bei der ganzen Welt entschuldigen zu wollen schien? »Nature itself has overdressed her«, sagte Wereschnikow, als er sie bei Merzinger beobachtet hatte, das traf es, obwohl bestimmt ein Zitat aus dem Schatz seines Vaters; die überreiche Ausstattung ihrer Erscheinung, die sich nicht dämpfen ließ, noch in einem grauen Sack hätte sie alles überstrahlt, im Sitzen jedenfalls, sie war eben einen Kopf größer als Rotzoff –

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