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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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die Kontrolle über den heimischen Dialekt.
    Nein, von Rotzoff war nichts zu sehen, der hatte ja nicht einmal eine Krawatte, überall ging die Künstlerattitüde eben doch nicht durch. Aber Winnie war aus ihren weiten Military-Hosen und den schweren Springer-Stiefeln herausgestiegen wie die Seele aus dem erdenschweren Körper. Sie hatte offenbar alles abgeschüttelt, was sie so roh bedrängt und beschwert hatte. Am Eingang zu dem düsteren Salon – mit weinrotem Brokat ausgeschlagen, eine Kaiserin-Witwe hatte sich einst hierher trauernd zurückgezogen, jetzt bildete der Trauerpomp den Ebenholzrahmen für das trubelige Geschäftsmanns-Einerlei – stand ein stämmiger junger Kellner mit Bürstenhaarschnitt, ein Indianer aus Ecuador meiner Einschätzung nach, und Winnie, die ihn nur ganz kurz und zunächst mit abgewandtem Kopf etwas gefragt hatte, befand sich unversehens in einem kleinen Gespräch, auf spanisch natürlich. Das Wechseln der Idiome gelang ihr flüssig, sie begann ihre Sätze in der einen und beendete sie in einer anderen Sprache – sie hielt es wie der rumänische Zigeuner, der zum Scherenschleifen kam und, um Auskunft gebeten, welche Sprache seine Muttersprache sei, antwortete: »Wie man mich fragt.«
    In ihrem Wortwechsel mit dem Indianer in dem weißen Kellner-Spencer lag nicht eine Spur von Herablassung oder Amüsiertheit. Sie sprach auf der Basis völliger Gleichheit, als gehörten sie zum selben Volk und hätten sich im Gewühl eines Bahnhofs wiedergefunden. Er antwortete ihr ernst. Sie blickte ihn interessiert an. In diesem Augenblick war mir, als hätte sie unseren gesamten häßlichen Auftritt restlos vergessen, sei schon auf einem anderen Ufer angelangt und blicke nicht zurück. So stark war dieser Eindruck, daß ich glaubte, mich nicht mehr vor ihr verbergen zu müssen. Nein, es war klar, daß sie durch mich hindurchsehen würde wie durch einen Fremden, wenn sich unsere Augen dennoch begegneten, und das nicht aus Zorn oder Gekränktheit – welches Recht hatte sie doch, gekränkt zu sein! –, sondern aus Vergessensferne. Der wohltuende Schwamm der Amnesie hatte mich einfach aus ihrem Gedächtnis gewischt.
    Sie war wahrscheinlich der erste Mensch, den ich kennengelernt hatte, der von der Gleichheit aller Menschen wirklich überzeugt war, nicht als philosophisches Theorem, sondern in der Form des Glaubens, der niemals der Rechtfertigung bedürfenden letzten Gewißheit. Und daß sie von Mann zu Mann fiel und dabei gar nicht daran dachte, welche Schmerzen und Empörung sie dabei hinter sich zurücklassen mochte, das hatte womöglich gleichfalls mit diesem Glauben an die Gleichheit zu tun: daß nicht allgemein die Menschen, sondern höchst konkret alle Männer gleich seien, die dicken und die dünnen, die alten und die jungen, die häßlichen und die schönen.
    Wir waren gleich! Zu dieser Sichtweise rang ich mich jetzt unversehens durch, während ich sie neben dem muskulösen, kurzbeinigen, dem braunhäutigen, mit Aknenarben auf den Wangen durchaus wild und kraftvoll wirkenden Indianer beobachtete, und ich versuchte, diese Eingebung sofort auch auszuprobieren, indem ich mich umsah, mitten ins gedämpfte Geschnatter hinein, mitten zwischen die scharfgezogenen Scheitel und die luftig aufgepusteten Friseurfrisuren. Hätte da eine Apfelsinenkiste gestanden, ich hätte sie am liebsten bestiegen und wie ein Hyde-Park-Speakers’-Corner-Redner in die Menge hinein verkündet: »Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen zu meiner Freude mitteilen: Wir sind gleich. Sie können sich entspannen und jedweden darüber hinausgehenden Anspruch einfach fallenlassen.«
    Statt dessen wurde jetzt von anderen an ein Glas geklopft. Es klingelte wie an Weihnachten, eine Apfelsinenkiste war leider nicht zur Hand, deshalb blieb mir der Redner unsichtbar. Er sprach aus der Menge heraus. Für mich war er nur körperlose Stimme, ein pfingstlicher Rufer, mit volltönendem tragenden Organ. Etwas Opernhaftes lag in dieser Rede. Der Sprecher stand wohl unter dem Kronleuchter, dessen vierzig Lämpchen goldgelbe Schirmchen trugen, das schwebte festlich über ihm wie eine Montgolfière, von der Heißluft seiner Ansprache in die Lüfte gehoben. Und von launiger Gehobenheit waren die Worte tatsächlich. Man kennt diese Reden auf tatkräftige Jubelgreise, die schon an ihrem Fünfundsechzigsten, an ihrem Siebzigsten, an ihrem Fünfundsiebzigsten gefeiert und oratorisch bekränzt wurden. Inzwischen ist längst nichts Neues mehr

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