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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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passiert, alles ist vielfach gesagt worden, die Lebensleistung beginnt historisch zu werden. Unter den Festgästen waren viele, die den Octogénaire gar nicht mehr im Büro erlebt hatten. Für die meisten im Raum war er eine Briefkopflegende, aber um so nachdrücklicher wurde seine einzigartige Persönlichkeit – »solche Leute gibt es gar nicht mehr« – gerühmt, sein Weitblick, vor dem das Adlerauge kurzsichtig genannt werden mußte, sein überlegenes Urteil – »oft habe ich mit ihm gestritten«, sagte der unsichtbare Redner, man spürte, wie mutig er war, an solche Augenblicke zu erinnern, »nur um später einzusehen, daß er immer – in jedem einzelnen Fall – recht hatte«.
    Ging er in seiner Verzweiflung nicht ein bißchen zu weit? Aber konnte man in diesem Fall zu weit gehen? Galt es nicht jetzt, den Weg in die maßlose Übersteigerung jedes möglichen Kompliments einzuschlagen, auch wenn der Achtzigjährige wahrscheinlich fünfundachtzig werden würde und man dann wieder sprechen mußte angesichts restlos aufgezehrter Lobes- und Ruhmeskonserven? Der indianische Kellner stand leicht breitbeinig, wie ein Matrose auf schwankendem Schiffsdeck, an der Wand unter einem schwärzlichen Gemälde der Bologneser Schule, einer »Flucht nach Ägypten«, aber Winnie war nicht mehr bei ihm. Sie war im Saal untergetaucht. Wer wußte, mit welchem Menschen sie gerade eben in eine schrankenlos aufrichtige Gleichheitsverbindung trat. Aber in der gesammelten Zuversicht im Gesicht des Kellners meinte ich eine Spur seines kurzen Austauschs mit Winnie zu lesen. Er war nicht mehr allein in diesem mit Fremden überfüllten Salon, er wußte eine verwandte Seele in seiner Nähe.
    Doktor Glück näherte sich mir von hinten und legte mir die weiche Hand auf die Schulter wie einen warmen, feuchten Lappen. Er wußte ja, was ich hier verloren hatte. Zu Ehren des Achtzigjährigen würde die Kanzlei einen beachtlichen Batzen für »kulturelle Zwecke« spenden – im Grunde steckte die unverhohlene Ratlosigkeit dahinter, was sonst man einem Achtzigjährigen schenken könne, schon gar einem solchen alkoholabstinenten Nichtraucher –, und noch, so hatte ich von Glück erfahren, schien der kulturelle Zweck nicht mit letzter Gewißheit bestimmt zu sein. Gab es etwa einen völkerverbindenderen, einen mutigeren, einen zur Weltstunde genauer passenden kulturellen Zweck als eine große repräsentative Mestrovic-Ausstellung, während sich auf dem Balkan gerade ein bösartiger Teilungskrieg abzeichnete? Das mußte man den Spendern und dem Beschenkten einfach nur nachdrücklich klarmachen – wenigstens sah ich Frau Markies nicht in der Nähe; »wo das Aas ist, sammeln sich die Adler«, heißt es in der Bibel, für die Markies hätte ich auch andere Vogelvergleiche parat gehabt. Wie stolz war ich gewesen, daß ich diese Einladung ergattert hatte! Und keine vierundzwanzig Stunden vor diesem Abend war die Mestrovic-Ausstellung gestorben. Meine Anwesenheit war völlig sinnlos geworden. Nein, keineswegs sinnlos – das würde ich bald erfahren.
    Glücks Miene sah so zerfallen und auseinanderstrebend aus, daß seine grundsätzliche Menschenfreundlichkeit kaum sichtbar wurde. Sein Gesicht war wie ein Haufen prasselnd hingeworfener Kies, im Wurf erstarrt. Er litt, weil er es allen recht machen wollte: mir, seinem von ihm ausgehaltenen Kumpan Rotzoff und natürlich auch Winnie, ihr sicher am meisten. Aber auch die Männer durften nicht zu kurz kommen, ich wußte schon, daß Glück war, was man in England »a man’s man« nennt, erfüllt von unverbrüchlicher Solidarität, Treue und Ehrenhaftigkeit, von romantischem Freundschaftsgeist.
    Ob ich Winnie schon begrüßt hätte? Die Frage klang bang. Sie zu stellen machte ihn verlegen. Schreckliches hätte ich ihr angetan, sie hätte sich lange nicht beruhigen können. Ihr Herz habe geschlagen wie wenn jemand mit dem Fingerknöchel an die Tür klopft, nein, nein, er habe es selbst gehört – das Schlimmste: Sie habe nicht weinen können, sei wie zugekorkt gewesen, ein Gefühlsaufstand in ihrem Innern, der keinen Ausweg fand. Am ganzen Körper habe sie gezittert. Ein trokkenes Sommergewitter mit Blitzen und Donner, aber eben ohne erlösenden Wolkenbruch habe sich in ihrem Körper abgespielt. Es sei ihm nicht der geringste Einfall gekommen, wie sie zu trösten oder wenigstens zu beruhigen sei, nur danebengesessen habe er. Den kurzen Reflex, sie in den Arm zu nehmen, habe er unterdrückt – »Sie

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