Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
Vom Netzwerk:
das will ich beschwören. Da ist kein Zweifel erlaubt, wenn auch ihr Blick gleich darauf starrer wurde und sie von ihrem Besuch bei mir wieder in sich zurückkehrte, höchstens sekundenlang, mir aber deutlichst gegenwärtig, dann ihre Augen wie in tiefem Schmerz zum Himmel wandte, ganz kurz glich sie einer in Reuegedanken verstrickten Magdalena von Guido Reni, aber dann kam ein Augenverdrehen, als wollte sie eine Fratze schneiden, ihr Kopf sank auf die Seite, das hatte auch etwas Tänzerisches, fähig war sie zu Situationskomik, wie ich sie selten bei Frauen beobachtet habe. Und dann war sie auch schon verschwunden, weggesackt, untergetaucht.
    Um sie herum entstand eine leicht scharrende Unruhe, eine Bewegung zu Boden blickender Köpfe, aber da war die weiße Jacke des indianischen Kellners schon zwischen das Schwarz gefahren. Es raschelte teppichgedämpft. Der Redner sprach launig weiter, in seine Regionen war von diesem Minimalgepolter nichts gedrungen, es erregte weniger Aufmerksamkeit, als wenn Regentropfen an die hohen Tudor-Fenster geschlagen wären.
    Nur mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Ich wand mich zwischen den Leuten hindurch, die eben gerade herzlich auflachten; dem Redner war ein selbstironischer kollektivverträglicher Scherz gelungen.
    Ein großer Paravent, mit Rokoko-Motiven bespannt, schirmte eine Ecke des Salons ab, dahinter wurden die Tabletts bestückt. Dort lag Winnie auf dem Boden. Ihr enges Kleid war hochgerutscht. Ihre Beine in schwarzen Strümpfen mit sehr breitem Rand, darüber die weiße Haut trotz ihrer Schlankheit ein wenig hervorquellend, lagen wie verdrehte Puppenbeine, man könnte geradezu sagen: neben ihr. Sie war weiß wie Kerzenwachs. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie sahen nichts. Der indianische Kellner kniete neben ihr, seine durchfurchten braunen Wangen waren ein Bild unzerstörbaren Lebens. Er hielt ihre kleine Hand, diese Finger, die ich so schmetterlingshaft schnell über die Tastatur ihres Rechners hatte gleiten sehen, sie kaum berührend, nur geistige Signale aussendend von den opal schimmernden Fingerkuppen. Aber jetzt kam nichts mehr aus den Fingern hervor, kein Zeichen, kein Druck. Sie waren von einer Schlaffheit, die dem beseelten Körper unmöglich ist, von einer anderen Kälte, ausdruckslos, und auch nicht mehr leicht.
    Als der Kellner ihr die Hand sanft auf die Brust zu legen suchte, rutschte sie ab wie etwas Weggeworfenes. Andere Menschen traten hinzu. Man sprach nur flüsternd. Ein Mann schob den Kellner beiseite. Der Arzt des Hotels war zufällig gerade im Haus, und so wurde Winnies Tod nur wenige Minuten nach seinem Eintreten schon fachmännisch bestätigt. Immer noch nicht kann ich begreifen, wie ich zu der einzigen Geste fähig war, die mir die Erinnerung an dieses Stehen hinter dem Paravent nicht gänzlich unerträglich macht. Ich zog das weiße Taschentuch aus meiner Brusttasche, beugte mich über Winnies schrecklichen Glasaugenblick und breitete es über ihr Gesicht.
    Hinter mir war ein würdiges, elegantes altes Ehepaar hinzugetreten: der Achtzigjährige und seine von bombenfester Silberhaarhaube überwölbte Gemahlin.
    »Wer ist das?« fragte der Jubilar.
    »Irgendwer Mitgebrachtes offenbar«, antwortete seine Frau. Jenseits des Paravents brodelte die Unterhaltung, die nun durch Reden nicht mehr behindert wurde. In seinem Schutz fand eine kleine Konferenz statt. Auch der Hoteldirektor war zur Stelle und zwei jüngere Männer, die den Alten duzten, Söhne offenbar. Tot, tot, tot – dies unüberbietbare Wort, auch im Flüstern noch schaurig genug. Was tun?
    »Ich habe den ganzen Tag an der Tischordnung gearbeitet«, sagte die Gemahlin. Diskretion, das wichtigste war jetzt Diskretion, das kam vom Jubilar. Damit war auch schon die Entscheidung getroffen. Entscheidungsstark war er immer gewesen, bis hin zum Dezisionismus, wie Kollegen ihm nachsagten, die länger zum Abwägen brauchten. Und war Diskretion nicht die höchste Stufe der Humanität? Bestand das Wesen der Humanität nicht vor allem und im tiefsten in Diskretion? Diese wundervolle Schonung der Gefühle der Mitmenschen, der Liebe sehr nah verwandt und mitunter ihr schönster Ausdruck. Die junge Dame hier war unabänderlich …
    »Sie wird nicht lebendig, wenn wir das Essen absagen.« Die Gemahlin war im Besitz eines unbestechlichen Scharfsinns. Sie trug ein Collier aus sehr großen, unergründlich schimmernden, grotesk geformten Perlen – ich nahm das aus meiner Entrücktheit genau wie

Weitere Kostenlose Bücher