Das Blutbuchenfest
mit einem Feldstecher wahr, ich hätte jede einzelne Perle wie beim Bleigießen charakterisieren können –, erstaunlich, wie die sinnliche Aufnahmefähigkeit wächst, wenn man aufhört zu denken. Zur Diskretion gehörte jetzt vor allem, die Festgesellschaft möglichst schnell in den benachbarten Speisesaal zu manövrieren, an den ausgebreiteten Flügeln des Paravents vorbei, der Winnies Leichnam beschirmte. Der rüstige Octogénaire sorgte selbst dafür mit seiner geborstenen, aber immer noch kräftigen Stimme, während die Gemahlin die Wacht hinter dem Paravent hielt, den weiten taftseidenen Rock des Abendkleides als zweiten Paravent vor Winnie ausbreitend. Jedem, der neugierig hinter den Wandschirm geguckt hätte, wäre der kleine auf dem Boden liegende Körper verborgen geblieben.
An der stillen Toteninsel strömte der aufgekratzt plaudernde Strom der Gäste vorüber. Keiner faßte Verdacht, keiner stockte, auch Doktor Glück nicht, der an einen weit entfernten Tisch gesetzt war, die Menge zwar unsicher nach Winnie absuchte, dann aber gehorsam zu seinem Platz ging. Als letzte, wie es sich bei routinierten Gastgebern gehörte, betrat die Gemahlin mütterlich-majestätisch um sich blickend den Speisesaal. Sie war sicher, daß keiner der Gäste gesehen hatte, was er nicht sehen sollte. Auch in meiner Benommenheit konnte ich nicht anders, als das eingespielte Zusammenwirken des Ehepaares zu bewundern. Mit welcher Feinheit hatten sie sich gegenseitig über die Hürde geholfen, den Tod ihres jüngsten Gastes zu einem Hindernis für den Ablauf des Abends werden zu lassen. Dieser kleine innere Kampf zwischen dem Respekt vor dem Tod und dem heftigen Wunsch, das Programm des Abends nicht zu gefährden – wie geschickt hatten sie ihn zu jenem Ende geführt, das sie beide wünschten. Die Gemahlin, soviel lernte ich jetzt, war in den Reden keineswegs nur höflichkeitshalber für ihr Verdienst an der Karriere ihres Mannes gepriesen worden. Sie war seiner wert. Und ich war wert, ihr Gast zu sein.
Wie eine Säule stand der indianische Kellner zu Häupten der Toten, die Hände auf dem Rücken, breitbeinig, ein Soldat, seine Miene war verschlossen. Er erwiderte keinen Blick, ich aber fiel von Winnie ab. Der Taftrock rauschte, und ich tappte hinter ihm her. Warum bin ich nicht sofort gegangen? Erst an der Flügeltür erzwang die Hausfrau, daß ich als erster eintrat – »Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion«, das war aber bereits so strahlend gesagt, daß die Beobachter der kleinen Szene glauben mußten, ich hätte der Dame ein Kompliment gemacht.
Sie schritt ihrem Tisch gelassen entgegen – das war die große Tafel in der Mitte des Saales, darüber ein Kronleuchter in der Größe eines Konzertflügels –, als sei sie in Gedanken nur mit dem Erreichen dieses Ziels beschäftigt, aber als sie an einem runden Tisch am Rand vorbeikam, hielt sie kurz inne, ließ ihren Blick schweifen und nahm dann, wie ein Raubvogel auf ein Gedeck herabstoßend, mit sicherem Blick ein Tischkärtchen weg.
Die hinter der Hausfrau eilenden Kellner entfernten das Gedeck und rückten die Nachbargedecke ein wenig auseinander, der Stuhl verschwand. Da war es, als habe sich ein kleiner Erd-Spalt geöffnet, habe Winnie verschluckt und sich sofort wieder geschlossen. Winnie war nicht einfach nur tot, es gab sie nicht mehr. Spurlos war sie über die Erde geschritten.
Ich weiß, daß ich für mein Verhalten von niemandem das geringste Verständnis erwarten darf. Ein Vieh wäre bewegter gewesen; hatte ich nicht soeben noch gewagt, Liebesgedanken mit ihr zu verbinden, eine durch Reue neu belebte Verliebtheit zu empfinden? Aber ich war in einen Zustand der Lähmung wie in einem bösen Fiebertraum geraten, in dem man immerfort etwas ganz Einfaches tun möchte, daran aber von winzigen und zugleich unüberwindlichen Hindernissen abgehalten wird. Und statt dessen nahm ich wahr, nahm ich überdeutlich wahr, was sich da vor das Richtige und Notwendige mit schwätzender Gewaltsamkeit schob. Mir war, als sei ich taub, hörte die Stimme, die mit mir sprach, aber laut in meinem Kopf, als stelle mein Hirn sie selber her.
Ich war neben eine mittelalterliche Dame mit großer Mähne plaziert. Sie war Reiterin, wie ich nach den ersten Worten erfuhr, eine herbe Person von sportlicher Hübschheit, ausnahmsweise keine Anwältin, sondern die Ehefrau eines Anwalts, die ihrerseits aber nicht müßig war und sich die Zeit in der Reithalle mit List organisieren mußte –
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