Das Blutbuchenfest
Trommelwirbel ertönte. Vier Männer traten der Göttin zur Seite und wuchteten sie aus dem Thron auf die mächtigen, aber unsicheren, zunächst einknickenden Beine. Sie war einen ganzen Kopf größer als die Menschenschar, die sie schwarmartig umwogte und ihr Schreiten begleitete. Wie ein verhafteter, von der Polizei vorgeführter Verbrecher wurde die Göttin geführt. Jetzt waren es sechs, jetzt waren es acht kleine Männer, die sie stützten und an ihr zerrten, die sie vorm Umfallen bewahrten und die sie voranstießen. Die Göttin stützte sich auf sie und suchte ihnen gleichzeitig zu entkommen. Sie ließ sich in ihre Arme fallen und drängte zugleich voran. Mir war, als gleiche sie einem zum Tode Verurteilten, der dem Richtplatz entgegeneilt, weil dies der letzte Ort ist, wo er seinen Mördern entkommen wird.
Sie war nicht Herr ihrer Bewegungen, aber auch nicht ihrer Stimmungen. Unversehens reizte sie etwas zum Zorn. Es kochte in ihr auf, und sie machte Anstalten, sich auf einen ihrer Wächter zu stürzen. Dann entstand ein Tumult, man schlug sie gar und riß sie vom Gegenstand ihrer Angriffslust weg. Und schon fielen ihr wieder die Augen zu. Zugleich wölbten sich die Lippen vor, als steige eine Übelkeit in ihr auf, es sah aus, als werde sie sich erbrechen, sie würgte. Der Speichel rann aus den Mundwinkeln über das rotgeschwollene, rotbeschmierte Gesicht. Dann versuchte sie den Rhythmus des ohrenbetäubenden Trommelns zu halten. Sie ging ein paar Schritte im Takt, ihre Miene entspannte sich, das war geradezu ein Lächeln, eine Freude darüber, aus dem Nebel aufgetaucht zu sein und die Rauschdecke durchstoßen zu haben: Seht ihr, es geht doch. Ich kann, was ihr wollt. Ich tanze – tatsächlich hatten ihre Bewegungen jetzt etwas Tanzbärenhaftes, eine rührende Unbeholfenheit, die einer Erwartung genügen wollte, aber das waren nur kurze Augenblicke. Dann trat wieder der Schwindel in ihr Hirn, die Göttin verdrehte die Augen, warf den Kopf zurück, und als sie sich nach hinten umfallen ließ, mußte eine noch größere Schar kleiner Männer sie aufrecht halten wie einen umknickenden Mast.
In seiner Ohnmacht aber blieb dieser bis zur Besinnungslosigkeit unter schwerste Rauschmittel gesetzte, in groteske Fülle gewachsene Eunuch in seinem sakral-monarchischen Flitter ein Gott. Ehrfurcht und Schrecken umgab ihn, in seiner benommenen Willenlosigkeit wurde er angebetet. Hände reckten sich zu ihm. Frauen riefen ihm mit gellenden Stimmen Flehendes ins Ohr, hielten ihm ihre Kinder entgegen und folgten der stockenden, in Trommeltosen sich vorantastenden Prozession, in der der Gott sich den Menschen offenbarte: der unbewußte, in seine Träume abgestürzte Gott in prunkvoller Willenlosigkeit. Läßt sich die absolute Macht, die alles vermögende, alles bewirkende, alles zerstörende, alles aufhebende, von absoluter Ohnmacht in ihrem Nichtsvermögen und Nichtsbewirken überhaupt unterscheiden? Läßt sich göttliche Allmacht überhaupt schlagender ins Menschenbild übersetzen als in eines der Ohnmacht? Nahm die Menschheitsgeschichte einen anderen Weg als dieser taumelnde Gott?
Eine unerhörte Erregung ging von seiner Erscheinung aus. Die Menschen, die zugeschaut hatten, als er geschminkt und wie ein Weihnachtsbaum geputzt worden war, folgten ihm in wilder Ergriffenheit. Es war, als hätte Isaias vor zweitausendfünfhundert Jahren genau einen solchen düsteren Kali-Karneval beschrieben – Kali Dea Natura: »Die Erde zerbirst, zerkracht, die Erde zerreißt, zerklafft … Die Erde schwankt hin, wankt her … Wie ein Trunkener taumelt die Erde … Wie eine Hängematte schwankt sie hin und her … Sie fällt hin und erhebt sich nicht wieder …«
Sich von diesem kaum erträglichen, für mich längst unerträglichen Anblick zu entfernen, war wie ein Heraustreten aus der Wirklichkeit. Es wurde bläulich, das Rosa war zum Horizont herabgesunken. Was war der Unterschied zwischen der Verehrung einer Gottheit und dem Unfug, der mit einem armen dummen Vieh, einem verkrüppelten Koloß grausam getrieben wurde? Aber daß ich das gesehen hatte, um es nicht zu vergessen und um zu erkennen, auf welchem Planeten ich lebte, davon war ich bei meiner Fahrt ins Nachtdunkel hinein überzeugt, während das Trommeln immer schwächer wurde.
Zweiunddreißigstes Kapitel
Im Schatten der Blutbuche
In den Wochen vor Rotzoffs großem Fest regnete es anhaltend, wie es nur in einem deutschen Sommer regnen kann. Dann strahlten im
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