Das Blutbuchenfest
Spitznase, bei einem Mann hätte das womöglich sogar hübsch gewirkt, bei ihr war es jedenfalls ein männlicher Zug. Die Lippen aufeinandergepreßt und dadurch noch schmaler als in gelassenem Zustand – kam es dazu jemals? Es war zum Erstaunen, so römisch sah sie aus, wie auf einem hellenistischen Gemälde eine familienbewußte, standesstolze Jung-Matrone. Sie willigte ein, sich meine Wohnung einmal anzusehen. Wenn sie mit ihrem Eimer oben angelangt sei, werde sie klingeln.
Als ich öffnete, standen wir auf derselben Höhe, aber sie war immer noch kleiner als ich. In ihrem schwarzen Jogginganzug wirkte sie gedrungen wie ein kompakter Ringkämpfer, aber keinesfalls fett. Sie schien vollkommen uneitel, eine körperlich schwer arbeitende Frau, die weder Zeit noch Lust hat, sich um ihre Erscheinung zu kümmern. Ohne Zeichen der Erschütterung ging sie durch meine beiden Zimmer, sah den Abwaschberg in der Küche, stieg behutsam über Bücherstapel. Das Ganze müsse einmal gründlich durchgeputzt werden, dafür rechne sie zwei Tage, danach reiche die wöchentliche Reinigung. Ob sie so bald zwei Tage freihabe, müsse sie sehen. Sie rufe heute abend an. Zwei Tage, das hätte auch ich geschätzt.
Sie sprach nicht gut deutsch, aber ich werde auch in Zukunft darauf verzichten, ihre gebrochenen Improvisationen zu zitieren, das würde abermals einen falschen Eindruck vermitteln, beim »petit nègre« ist es ja vor allem das Kleine, das Unbedarfte, das Halbidiotische, das amüsiert oder enerviert, und es wäre mir fatal, wenn man bei ihr an so etwas dächte. Es war schade, daß sie keine Zeit hatte, an einer Schule ordentlich Deutsch zu lernen, denn sie war sprachlich begabt. Es gelang ihr, sich mit winzigem Wortschatz verständlich zu machen. Auch Kompliziertes vermochte sie auf erfinderische Weise deutlich werden zu lassen, manchmal durch kleine Scharaden. So ernsthaft sie war, hier hatte sie eine komische Seite; sonst mußte ich mich mit Ironien oder Scherzen in acht nehmen, um sie nicht zu verstimmen. Witze hatten unmißverständlich zu sein, im Sinne von »Jetzt mache ich einen Witz Doppelpunkt Anführungszeichen …« Das aber war kein Intelligenzmangel bei ihr, solche Verständnislosigkeit ist sogar bei ausgeprägten Intelligenzen nicht so selten. Ein einziges Beispiel zitiere ich, wie sie sich sprachlich durchschlug. Ich habe den Zettel lang aufgehoben, denn ich war stolz, ihn nach längerem Nachdenken entschlüsselt zu haben. Neben einer Spülmittelflasche lag dieser Zettel, und darauf stand in ungelenken Großbuchstaben: Ivana vil nois. Als ich die frische Spülmittelflasche auf diesen Zettel stellte, fühlte ich mich, als hätte ich eine neue Sprache erlernt.
Man sieht, sie fand die zwei Tage für den großen Anfang und noch mehr: Sie hatte verstanden, mit wem sie es bei mir zu tun hatte, und warf mich kurzerhand, bevor sie anfing, aus der Wohnung. Die Zimmer seien zu klein, um darin zu putzen, wenn noch jemand darin herumsitze. Unerschrocken packte sie alles, was auf dem Boden herumlag, in große Packen und verstaute sie auf Regalen und Schränken. Als ich wiederkam, war der Boden freigeräumt. Das Zimmer schien doppelt so groß. Wiederfinden würde ich so schnell nichts mehr, aber ich hatte gar nicht vor, etwas zu suchen. Ich fühlte die unerhörte Befreiung eines Menschen, über den in allen wichtigen Angelegenheiten verfügt worden ist. Ihr Wirken bei mir glich einem Wunder: Aber es war nur das zweitgrößte Wunder, das mit ihrer Person verbunden war. Das viel größere, über das ich mich bis heute nicht beruhigen kann, war ihr Name. Ihn erfuhr ich schon, als wir die Telephonnummern austauschten.
Sie heiße Ivana Mestrovic. Da war mir, als werde neben mir eine große Glocke angeschlagen.
Man kennt Ivana jetzt vielleicht schon genug, um zu ahnen, wie sie es aufnahm, als ich den großen Katalog, der mich beschäftigt hatte, herbeiholte und ihr zeigte: ungerührt, geradezu kühl. Ja, den kenne sie. Nicht persönlich, er sei tot, in Amerika gestorben, aber, sie rechnete kurz nach, nah verwandt. Er stamme aus demselben bosnischen Dorf wie sie, sei nicht der Bruder ihres Großvaters, sondern sein Vetter, die Urgroßväter waren Brüder. Daß sie hier, tausend Kilometer von der Heimat entfernt, in einer verwahrlosten Junggesellen-Wohnung auf ein Zeugnis ihres engeren Familienkreises stieß, verblüffte sie nicht. Die Leute, bei denen sie in dieser Stadt arbeitete, waren in ihren Gewohnheiten und Gebräuchen so
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