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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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und so ratlos, daß ich geneigt war, überall nach Zeichen zu suchen und von außen zu erhoffen, was von innen nicht zustande kommen wollte.
    Mein Doktorvater, von dem ich glaubte, daß er mich mochte, hatte mir geschrieben, als ich ihn nach der Promotion um Rat für die Zukunft bat: »Strampeln Sie nicht herum! Lassen Sie sich schieben!« Manchmal fürchtete ich, er meinte in Wahrheit, daß ich mit selbst ausgeheckten Aktivitäten unfehlbar scheitern würde; nur das Geschenk des Zufalls könne mich retten. Als Ivana Mestrovic mir ihren Namen nannte, da offenbarte sich mir unversehens der Sinn seines Rats: Soeben wurde ich geschoben, unzweifelhaft, ich mußte gehorchen.
    In dieser Verfassung gesteigerter Aufmerksamkeit, in der S-Bahn auf der Fahrt zu Frau Markies, spitzte ich die Ohren, als ich in meinem Rücken eine Mädchenstimme von kindlich weichem Timbre vernahm: da war jemand in ein Gespräch mit dem Kontrolleur verwickelt. Sie hatte keine Fahrkarte, was sie mit einfachen Worten bekannte, als sei nichts dabei. Sie hatte eben keine. Der Kontrolleur war ein jüngerer, schon beleibter Mann mit feschem schwarzen Schnurrbart und südlich braunen Augen; er stand seitlich von mir und verdeckte das Mädchen. Auf ihren sanften höflichen Ton ging er ohne weiteres ein, in dem Bemühen, leise zu sprechen, um kein Aufsehen zu erregen: Ob sie nicht doch noch einmal nachsehen wolle, da finde sich doch meist etwas …?
    »Leider nein«, sagte die Mädchenstimme, jetzt gleichfalls gedämpfter, indem sie seine Behutsamkeit übernahm, »ich kann nichts finden, weil ich nichts habe.«
    »Sie haben wirklich … nichts?«
    »Nein, gar nichts«, das war schon beinah im Flüsterton gesprochen, es war wie eine kleine Verschwörung in meinem Rücken, nicht die Spur von amtlicher Peinlichkeit.
    »Nichts – also tatsächlich nichts …« – Mir war, als verfalle der Kontrolleur in eine philosophische Träumerei über den Begriff des Nichts, als sei er bereit, sich ganz in das Nichts fallen zu lassen.
    »Ja, nichts«, ein ganz leichtes Zittern lag in der Mädchenstimme. Jetzt schwiegen beide. Ich stellte mir vor, daß sie sich ansahen, in einem langen vielsagenden Blick. Dann begann der Kontrolleur etwas zu murmeln. Er wirkte wie ein Mann, der im Selbstgespräch rekapituliert, was in solchen Fällen zu unternehmen sei.
    »Gut«, sagte er schließlich, »wir sehen dann … Wir müssen dann eben sehen …« Und jetzt riß er sich los. Es war ein Willensakt, von dem Gespräch mit diesem stillen Mädchen wegzukommen und sich wieder in seine Alltäglichkeit zu begeben, selbst von meinem Posten schräg hinter ihm deutlich spürbar. Und während des gesamten Gesprächs empfand ich die unumstößliche Gewißheit, daß dieses Mädchen dasselbe sein mußte, das beim Lesen der elektronischen Nachricht neulich in Tränen ausgebrochen war. Dabei hatte ich damals gar nicht ihre Stimme gehört, oder doch? Hatte sie sich mit diesen unvergeßlich blassen, frisch kirschenhaft quellenden Lippen nicht etwas vorgelesen? Gehörte sie nicht zu den wunderbar naiven Menschen, für die Lesen immer laut Lesen bedeutet? Die wichtigste Entdeckung aber war, daß ich in den letzten Tagesaffairen nicht aufgehört hatte, an dieses Mädchen zu denken, während andere schöne Unbekannte, denen man doch immer wieder begegnet, sich wie Träume verflüchtigen. Bei ihr war dieser Vorgang der Verfinsterung, der Eintrübung, das Aufsteigen von dunklen Säften in ihrem sanften Gesicht hinzugekommen. Es war nicht nur ein Bild, es war ein ganzer Prozeß, den ich in mir trug, und er war ein Rätsel, aber ein lebendiges, das jedenfalls auch sprechen konnte, und ebenso wie es Barbaren gab, die die Verletzlichkeit dieses Mädchens nicht schonten, so gab es auch Naturbegabungen, edel geborene Menschen, wie dieser Kontrolleur, die sie erkannten und unter ihren Schutz nahmen, ohne daß dies Elfenkind nur darum bitten mußte.
    Ich konnte nicht widerstehen. Ich drehte mich um. Mein Blick fiel auf einen tiefschwarzen, wie mit Schuhwichse gefärbten Hinterkopf. Alle Frauen färben sich heute die Haare, aber bei diesem Mädchen hätte ich geschworen, daß sie es niemals tun würde, obwohl die Farblosigkeit ihres Haares gewiß schon mehr als eine Friseuse zu dem Vorschlag bewogen hatte, es doch einmal mit einer Tönung zu versuchen. Die Schwarzhaarige stand auf. Von der Seite gesehen war auch sie ein sehr schönes, aber durchaus kräftiges Mädchen. Ich konnte die Unlust des

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