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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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es lag so nahe. Ihre Füße waren ein zerbrechliches Spielzeug, die Sohlen vom Straßenstaub ein wenig angegraut, was aber für mich den Eindruck von grundsätzlicher Frische und Reinlichkeit noch verstärkte, ich war jetzt schon ziemlich weit davon entfernt, in meiner Wahrnehmung unbestechlich zu sein.
    Regelmäßig müsse sie sich in diesem Krankenhaus einfinden, alle drei Wochen genaugenommen, wenn nicht ein Anfall dazwischenkäme – dann natürlich sofort. Sie sprach das mit völliger Gelassenheit aus, sogar bescheidenem Stolz, daß ihr so viel Aufmerksamkeit gewidmet werde. So hätte das Mitglied eines exotischen kleinen Volkes einem Ethnologen dessen besondere Sitten und Gebräuche erklären können, die, allen anderen Völkern unbekannt, gerade die höchste Verdichtung der kleinen nationalen Eigentümlichkeit darstellen – etwas Schönes, ohne welches das Leben ärmer wäre. Sie sei herzkrank auf die Welt gekommen. Es habe einen Streit zwischen den Eltern darüber gegeben, ob man sie sofort hätte operieren lassen müssen, der Vater war dafür, die Mutter strikt dagegen. Sie hatten damals auf einem Hausboot in Amsterdam gewohnt, sie habe daran nicht die blasseste Erinnerung – das war für sie ein Grund zum Gelächter, nicht beschreiben zu können, was man mit eigenen Augen gesehen hat. Aber sie hatte schon an so vielen Orten der Erde gelebt. Die Eltern waren unruhig, solange sie zusammenblieben, und zogen von Kalifornien nach London, von Rom nach Island, der Vater war Musiker gewesen – »aber nicht mit Instrumenten, er hat nur mit dem Tonband gearbeitet, Geräusche sammeln, das war seine Sache« –, vor zehn Jahren sei er gestorben, da seien die Eltern aber schon getrennt gewesen. Die Mutter habe den Tod gar nicht richtig mitbekommen. Sie sei sehr krank – »Sie hat Angst vor mir«, auch das war für sie ein eher erheiterndes denn beunruhigendes Faktum. Die Welt mußte sich anders als sonst in Menschenköpfen in einem Kopf malen, der Angst vor ihr hatte. Mir war, als wolle sie sagen: Wer so wenig Angst hat wie ich, der macht auch keinem anderen Angst – ein nicht wirklich zwingender Schluß, aber für sie gehörte das wohl zusammen.
    Es werde mit dem Herzen leider nicht besser, eher schlimmer. Die blauen Lippen kämen daher, sie müsse sich gar nicht anmalen. Als blau empfand ich die Lippen nicht, für mich waren sie grau, von durchscheinender Farblosigkeit, als Kunsthistoriker hätte ich vom grauen Inkarnat Botticellis gesprochen, Winnie war hellgrau-florentinisch-frühlingshaft. Ihre Füße – wie konnte man auf solch kleinen Füßen stehen? –, die ich hin und wieder doch streifte, um nicht dauernd wie auf einem Katafalk dazuliegen, waren kühl wie polierter Stein.
    »Ich werde nicht alt«, sagte sie verträumt, als wolle sie sagen: Ich fahre nächste Woche nach Paris. Es führe nichts um eine Herztransplantation herum, habe der Arzt gesagt, ein berühmter Arzt. Die reichen Chinesen und Araber und Russen reisten zu ihm, in seinem Wartezimmer saßen erstaunliche Leute. Einmal habe auf dem Mäuerchen neben der Krankenhaustreppe ein düsterer alter Inder gehockt, seine Mütze neben sich, sie habe ihn für einen Bettler gehalten und sie gebe jedem Bettler etwas – jedem! Das sei ihr Prinzip, es sei ihr vollständig gleichgültig, was die Leute damit machten, sie finde, das gehe einen nichts an! Aber dieser Inder schimpfte über die Mark in seiner Mütze, und da glitt auch schon eine große Limousine heran, und der Fahrer näherte sich eilfertig, um seinen Herrn in den Wagen zu setzen. So alt wie dieser Inder werde sie nicht einmal mit einem neuen Herzen. Der Arzt spreche offen mit ihr. Sie könne gut mit der Wahrheit umgehen – an dieser Redewendung erkannte ich das Zitierende, das »mit der Wahrheit Umgehen« hatte sie woanders gehört, die Betulichkeit dieser Formel entsprach ihr nicht, aber sie übernahm, was sie von respektablen Personen hörte, in aller Unschuld. Wenn klügere und erfahrenere Menschen so sprachen, dann machte sie nichts falsch, wenn sie es ebenso tat. Sogar wenn Winnie plötzlich eine Kalenderblattweisheit zitierte – »Du bekommst immer zurück, was du gibst« –, die die Moral mit einem gefühlvollen und zugleich selbstgerechten Kalkül verband, eine original kommerzielle Maxime, die ihr so fremd war –, sie dachte doch keinen Moment daran, irgend etwas zurückzubekommen, wie sie auch gar nicht fand, daß sie überhaupt etwas gegeben hätte –, verwandelte

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