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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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häßlich, brauchbar oder unbrauchbar, ohne Interesse war, einfach nicht griff, und damit wurde aus der multiplen Korsenwiederholung ein Nichts. Manchmal stieß sie mit dem Staubsauger dagegen. Manchmal fiel ein Bild um. Eine Glasscheibe war bereits zersprungen, daran war Doktor Glück schuld. Warum hängte er das Zeug nicht auf? Es waren doch Aufhänger dran. Er beschwerte sich im übrigen nicht. Nahm er selbst seine Napoleons noch wahr?
    Die Wohnung lag im ersten Stock einer älteren Villa in einer engen Seitenstraße mitten im Stadtzentrum. Von ihrem hinteren Balkon blickte man in einen großen Garten mit hohen alten Bäumen, nichts Überraschenderes war vorzustellen. Diese grüne Kaverne mitten in der Stadt hatte etwas vom Land hinter den Spiegeln, das die englische Alice betreten hat und aus dem sie heil zurückkehrte. Eine zweite Topographie, auf dem Stadtplan nicht ablesbar, schien hier ein anderes Raumgesetz geschaffen zu haben. Hinter der Häuserfront war das Gartenland gleichsam aufgeblasen. Doktor Glück betrat diesen halbverwilderten Garten selten. Meist blickte er von seiner Terrasse auf ihn hinab. Mit der Stewardeß hatte er hier oben ein mitternächtliches Mahl gehalten. Die roten Hummerschalen und leeren Flaschen standen noch auf dem Tisch, die Stewardeß war kein häuslicher Geist und hatte nichts hineingetragen, und Doktor Glück dachte ohnehin nicht an dergleichen. Auch was sonst geschehen war, ließ sich rekonstruieren, zum Teil jedenfalls. In Doktor Glücks Bett fand sich zwischen den Laken ein hübsches Spitzenunterhemdchen, während Glücks Pyjama im Wohnzimmer auf dem Sopha in ein kariertes Plaid hineinverwickelt war. Armer Doktor Glück, nicht einmal in seinem eigenen Bett hatte er erwachen dürfen. Die hallende Leere der Räume hatte keine Insel der Harmonie umschlossen, sondern die beiden Menschen auseinandertreiben lassen.
    Auf dem Balkongeländer saßen zwei große Krähen, in den darunterliegenden Geländerstangen drei weitere. Sie sahen aus wie schwarze Noten auf Notenlinien, ein musikalischer Mensch hätte eine kleine Melodie danach summen können. Ivana war vollständig unmusikalisch, schätzte Musik auch nicht besonders, hörte niemals zu und konnte deshalb keine Melodien unterscheiden. Melodien fügten ihrem Leben nichts hinzu. Aber Krähen sah sie nicht so gleichgültig an. Krähen verabscheute sie. Freche, böse Vögel, häßliche, gemeine Vögel. Furchtlose Vögel, das war besonders verwerflich. Wenn Ivana sich näherte, gehörte es sich für ein Tier, Angst zu haben. Doktor Glück hatte auf dem großen Balkon, der zum schwarzen undurchdringlichen Garten hinausging, mit seiner Stewardeß ein nächtliches Picknick gehalten. In einer warmen Sommernacht war dieses Sitzen und Trinken im Freien sein bevorzugtes Vergnügen. Er brauchte dann, wenn er allein war, nicht einmal eine Kerze. Der Himmel blieb zwar dunstig schimmernd, richtig rabenschwarz wurde es mitten in der Stadt nie, selbst die Sterne hatten es schwer, ihr Gefunkel gegen die Großstadtlichtüberschwemmung durchzusetzen, aber der Garten versank ins Geisterhafte, die Büsche nahmen menschliche Formen an, als lauere dort unten in der Stille eine kleine Banditenschar, und dabei war es doch nur ein starker Kater, der dies Dschungelparadies durchstreifte.
    Wie immer das nächtliche Mahl geendet hatte, jetzt sahen seine Spuren wüst, ja abstoßend aus. Die Sektgläser waren umgefallen, eines zerbrochen, der Brotkorb enthielt ein paar unappetitliche Reste, eine rosa Sauce war über den Tisch geschmiert, und Hummerschalen lagen weithin auch über den Boden zerstreut, als habe Glück mit der Faust daraufgehauen und den Hummer ringsum wegspritzen lassen, und das hatte er, bei all seinem stets aufs neue verblüffenden Ungeschick, mit dem er etwas zu sich nahm – eine Tasse Tee mit Zucker zu trinken wurde bei ihm schnell zu einer klebrigen Kleckerei –, denn doch nicht getan, und die Stewardeß war beim Herauslösen des Fleisches sogar besonders geschickt gewesen und hatte sich genießerisch die Fingerspitzen geleckt. Nein, diese Verwüstung war das Werk der Krähen, die unter dem Schirm der artenschützenden Stadtregierung jeden natürlichen Feind verloren hatten und zu einem kraftvoll rohen Volk herangewachsen waren. Keine Singvögel zwitscherten mehr lieblich, keine Sperlingswolken flogen mehr auf wie in die Luft geworfene Konfetti, jetzt regierte das böse sägende Krah-Krah, mit dem schlimmen Rabenrat: Cras, Cras –

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