Das Blutbuchenfest
Orten alsbald wiederzubegegnen? Das wäre ein Kompliment für mich gewesen, denn für die Diskotheken fühle ich mich eigentlich zu alt, und als hungriger Wolf dort allein umherzustreifen hat in meinen Augen etwas Peinliches. Aber mein Eindruck von Winnie war sehr stark. Ich fühlte mich, wenn ich an sie dachte, als Figur einer Geschichte, von der nicht ganz klar war, wann sie begonnen hatte und wie weit sie gediehen war. Die Wand, vor der ich jetzt stand, verstimmte mich. Sie hinderte das Weiterfließen.
Die Vorstellung eines Weiterfließens unseres Lebens scheint uns notwendig zu sein. Wir wollen das, was wir erleben, als kausal nachzuvollziehende Entwicklung begreifen. Die vielfach getrogene, uns nie verlassende Hoffnung, das Zukünftige vorherzusehen, sie stützt sich auf diese Vorstellung ununterbrochener Entwicklung des Lebens; wie bei den Zahlenspielen der Intelligenztests, in denen es darum geht, eine Reihe scheinbar regellos aufeinanderfolgender Zahlen sinnvoll fortzusetzen, so wollen wir auch der Zukunft Herr werden. Und dabei ist der regelmäßige und vorhersehbare Verlauf der Ereignisse aufs höchste bedroht; das zeigen schon die trivialsten Miniaturunfälle, das Verschlucken zum Beispiel. Man sitzt in angeregtem Gespräch bei Tisch, man lacht und streitet, man genießt den Augenblick, das Leben lächelt, es wird immer so sein, dann eine winzige Unachtsamkeit, der Wein rinnt in die falsche Kehle und nun der Krampf, das Husten, die rot unterlaufenen Augen, das Zusammenströmen aller Gedanken nur auf den unbeherrschbaren Reiz in der Kehle – wenn man aus diesem Würgen nicht herausfände, dann stürbe man mit offenen Augen, ohne noch einen einzigen Gedanken an die liebsten Menschen zu wenden –, in vollständiger Wachheit müßte man sein Leben reduziert sehen auf einen keuchenden Kampf, in dem alle Freude vieler Jahre spurlos unterginge. Ich nenne solche Vorkommnisse, die den geplanten Ablauf schmerzhaft unterbrechen, manchmal auch beenden, »philosophische Augenblicke«. Jäh werden wir aus der Bahn unserer Phantasie auf den steinigen Boden der Wirklichkeit gestoßen, so heftig, daß das Denken, dies Verweilen in den Illusionen der Ordnung, aufhört und ein Fühlen an seine Stelle tritt, das im Schmerz jeder Täuschung ein Ende bereitet.
Geradezu ideal ereignete sich ein solcher philosophischer Augenblick, als ich ein paar Tage später auf dem Fahrrad zu einem Treffen mit Wereschnikow bei Merzinger fuhr. Das Fahrradfahren enthält für mich dies illusionsgesättigte Durchs-Leben-Gleiten in Perfektion. Alles Denken ist von sausender, Gegenwind erzeugender Bewegung begleitet, als setze es sich augenblicklich in ein Die-Lüfte-Durchdringen um; das Fahrradfahren enthält für mich das kleine Glück einer sanften, sogar gesunden Droge. Alles scheint zu gelingen, während ich, durch leichte, kaum spürbare Abschüssigkeit des Geländes noch beschleunigt, die Luft zerteile. Das war schon in der Schulzeit so, ich sehe mich zu Ferienbeginn mit einem sehr schlechten Zeugnis in der Tasche bei starker Hitze eine sich senkende Straße nach Hause flitzen und im Fahren wirklich glauben, ich hätte die fatale Situation ganz und gar in der Hand. Damals gab es leider keine Ruptur, die diese irrige Vorstellung beendete, sie durfte in den Untergrund des Lebensgefühls eintreten und sich verhängnisvoll in das Gewebe meines Wirklichkeitsbildes einflechten. Jetzt auf dem Fahrrad in lauer Luft mit wehenden Rockschößen war ich ganz der Kunstadministrator neuen Typus’, der seine Geschäfte künstlerisch und die Kunst geschäftlich betrieb. Wereschnikow hatte mich vollständig eingeseift. Ich hatte alle Zweifel abgelegt und verfolgte mein Ziel, das ich in einem großen Zusammenhang aufgehoben wußte.
Nicht alles, was Wereschnikow mir vortrug, fügte sich zur Vollständigkeit. Es blieben da stets Lücken, bei denen sich das Nachfragen aber verbot, mir jedenfalls, dem Neophyten. Er steckte voller amüsanter Geschichten, ich erinnere mich an seine Aventüre mit einer marokkanischen Hure in Tanger, die er mit größtem Freimut zum besten gab: Wie sie nach einem Streit voller Zorn seine Kleider aus dem Fenster geworfen habe, nackt sei er gewesen, sie sei aus dem Zimmer gelaufen. Später habe man sich wieder versöhnt und es sei noch »sehr nett«, so wörtlich, geworden, eine »schöne Begegnung« – aber das für mich Entscheidende, wie er damals wieder an seine Hosen gekommen sei, das ließ er aus, in durchaus großer
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