Das Blutbuchenfest
Romantradition nebenbei. Der Geschichte fehlte, vom streng Literarischen her betrachtet, nichts, aber dies war grundsätzlich der Stil seiner Darstellungen. Es blieb gleichsam immer offen, wie er wieder an seine Hosen gekommen sein wollte, das hatte sich der Zuhörer durch seine Weltkenntnis zu ergänzen. Und Weltkenntnis besaß ich ja, zumindest während ich von lauem Wind zärtlich gestreichelt auf dem Fahrrad dahinglitt.
Es gab jetzt einen niedrigen Bordstein zu überwinden, ihn schräg anzuschneiden, ich dachte: Das wird vielleicht doch etwas zu schräg, der Reifen könnte abrutschen, da war der Sturz schon da, im Detail mir nicht nachvollziehbar, das Fahrrad jedenfalls stand still und ich schoß über die Lenkstange hinweg, mit den ausgestreckten Händen und Knien über das sandpapierrauhe Kunststeinpflaster schrammend. Wie scharf der Traumfaden durchschnitten war, zeigte der Schmerz an, in den sich, nach einer sekundenlangen Benommenheit, das verwirrte Schuldbewußtsein mischte, das mit Stürzen häufig verbunden ist. Solange der Schmerz so stark ist, daß er das Denken verhindert, dauert unser Rendezvous mit der Wirklichkeit. Nicht lange also in meinem Fall. Passanten halfen mir auf, die Hose war überm linken Knie zerrissen und blutbefleckt, ein Menschenfreund telephonierte ein Taxi herbei, verstört und mit verzerrter Miene humpelte ich ins Krankenhaus, saß lange in einem tristen Flur, wurde schließlich geröntgt und mit dem ebenso beruhigenden wie auch inzwischen gar etwas enttäuschenden Befund entlassen, es sei nichts gebrochen, nur geprellt – wenn ich mich eine Woche schonte, sei alles wieder gut.
Gesegneter Blitzeinschlag auf meiner bornierten Fahrt durch die eigene Phantasie! Gesegnet jedes Detail dieses Unfalls, einschließlich der stumpfsinnigen Warterei auf dem Flur, während der Schmerz im Knie wie ein Uhrwerk pochte. Als ich mich hinkend zum Ausgang schleppte, mit gereinigter und gewickelter Kniewunde, auch die aufgerissenen Handinnenflächen waren gewaschen und verpflastert, kam mir Winnie entgegen.
Sie trug eine leichte Reisetasche, als hätte sie im Krankenhaus übernachtet. Oder kam sie anderswoher? Mir fiel ein, daß man in Frankreich solch ein kleines Übernachtungsgepäck Baise-en-Ville nennt, das gab mir einen kleinen Stich – wieso eigentlich? Mit welchem Recht wollte ich diesem kaum fünfundzwanzigjährigen Kind neiden, wenn es sich seinem Alter gemäß vergnügte? Sie war sehr blaß, die Schatten unter den Augen waren echt, aber sie sahen aus wie geschminkt in einem durchsichtigen Violett. Alles ergab sich ganz einfach. Ihr Mitgefühl bei der Schilderung meines Sturzes war so ausdrucksvoll, als sei mir soeben das Bein nicht verbunden, sondern abgeschnitten worden. Ich tat nichts, um ihre Sorge zu dämpfen. Es war ein schier überwältigendes Geschenk, sie nicht nur unverhofft wiederzusehen, sondern gleich auch in einem Höchstmaß von Anteilnahme zu baden. Sie begleitete mich nach Hause – nein, etwas anderes komme nicht in Frage, ich würde mir allein wohl kaum helfen können. Und es war wirklich nicht ganz leicht, die Treppe in den dritten Stock zu erklimmen, mit stocksteifem linken Bein, wobei das rechte gleichfalls angeschlagen war, aber ich hätte mich in ihrer besorgten Begleitung auch gern zehnmal die Treppen hinauf- und hinuntergeschleppt. Der Geruch von chemischen Putzmitteln auf der Treppe zeigte an, daß Ivana das Haus erst vor kurzem verlassen hatte. In meiner Wohnung roch es in diesem Sinn frisch, Sauberkeit mehr repräsentierend, als daß sie wie im Hause Breegen etwa wirklich hergestellt worden wäre. Ivana putzte bei mir vor allem die sichtbaren freien Flächen, wie um das südliche Mittelmeer herum auch beim Anstreichen vorgegangen wird, wenn der Weißbinder davon absieht, den Kalender an der Wand abzuhängen, sondern ihn statt dessen mit dem Pinsel großzügig umfährt, er bekommt dabei ein paar Farbspritzer ab. Ich glaubte, dieser Methode entnehmen zu dürfen, daß Ivana mich zu ihrer weiteren Verwandtschaft rechnete, und nahm sie als Freundschaftsbeweis, und auf den ersten Blick sah die Wohnung adrett genug aus, um Winnie zu empfangen, vor allem der Spülunrat war beseitigt. Sie fand in der Küche saubere Tassen und konnte Tee für uns machen, während ich mich aufs Bett legte.
Aufgebrochen war ich von hier zu großen Taten, heim kehrte ich in ein Lazarett, aber in Hochstimmung. Winnie lief zwischen Küche und Schlafzimmer hin und her, das Wasser kochte
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