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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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schußstark, war aber völlig falsch eingesetzt«, und Glück: »… war falsch eingesetzt« – danach schaute er sich um, als wolle er sagen: Jetzt hab ich es aber mal richtig getroffen – habt ihr das bemerkt? Ich kann mitreden! Wenn er dahin gelangt war, drohte Rotzoff keine Gefahr. Man konnte diesen Zustand auch entschlossen herbeiführen, indem man Glück zum schnellen Kippen von ein paar Cognacs nötigte. So sanft und unterwürfig Glück dann auch wurde, Rotzoffs Giftigkeit verlor zugleich jede Hemmung. Was unbedingt vermieden werden mußte, war nur ein Gespräch zwischen Merzinger und Glück. Merzinger in seiner Unberechenbarkeit konnte plötzlich von Glück Genaueres über das Fest wissen wollen, und Glück war immer noch nicht eingeweiht. Unerklärlicherweise stand Rotzoff dies Gespräch belastend bevor. Bedenken waren doch eigentlich seine Sache nicht, aber hier waren sie unangemeldet plötzlich aufgetreten. Was tat er, wenn Glück Nein sagte? Wenn er störrisch wurde? Wenn es einen objektiven Hinderungsgrund gäbe – das Haus renoviert würde oder Doktor Glück verreisen mußte? Glück durfte nicht kneifen, Glück durfte ihn nicht versetzen, Glück war verpflichtet, ihn, Rotzoff, nach Kräften zu fördern – wieso eigentlich?
    Auf dem Bahnhof hatte Rotzoff einem Mann zugesehen, der mit einer kleinen Taschenlampe in die Löcher der Abfallbehälter leuchtete, und, wenn der weiße Lichtstrahl im Innern des stinkenden Bauches auf eine Pfandflasche traf, mit dem ganzen Arm bis zur Schulter hineinlangte, um, manchmal mit Mühe, die Flasche zu fassen zu bekommen. Rotzoff war so hingerissen von der Akribie, mit der dieser Mann zu Werke ging, daß er ihm folgte, den ganzen langen Bahnsteig entlang. Keine Mülltonne wurde ausgelassen, den Ekel hatte der Mann offenbar vollständig überwunden. Das Operationssaallicht, der hartweiße Strahl seines Lämpchens hatte auch etwas Reinliches. Wie viele Flaschen mußte man sammeln, bis ein paar Mark zusammen waren? Solche Gedanken der Einfühlung waren für Rotzoff noch ungewöhnlich. Seine Macht, von anderen Menschen Besitz zu ergreifen, hing mit seiner Fähigkeit zusammen, in sie hineinzuschlüpfen und mit ihren Augen zu sehen. Die Beobachtung des Flaschensammlers ließ indessen auf ein durch Sorgen bereits zerrüttetes Fundament seines Selbstbewußtseins schließen. Denn eigentlich sah er sich, die große Barriere im Blick behaltend, die die Bevorzugten, die Anspruchsvollen, die Verwöhnten und Respektgebietenden von den Verkümmerten, den Trinkgeld- und Almosenempfängern, den Dürftigen und Einflußlosen trennte, durchaus auf der im Licht liegenden Seite dieser Barriere – wohlgemerkt nicht im Licht dieser Taschenlampe. Aber was war, wenn sein Boot plötzlich umschlug? Er hatte peinigende Erfahrungen hinter sich.
    Der Haufen vor der Leinwand grölte und stimmte ein in das mächtige Geheul im Stadion. Das war wie Sturmesbrausen, Meeresrauschen, Schlachtenlärm, wie asiatischer Chorgesang, anschwellend und abschwellend. Wer es mit den Siegern hielt, wurde vor Freude geradezu verrückt. Die Kamera verweilte jetzt beim Trainer der Verlierer, denn zum Sieg gehörte eben auch die Niederlage, der strahlende Held erhebt sich über den auf dem Boden kriechenden Geschlagenen. Aber der besiegte Trainer wand sich nicht, er kroch nicht. Sein Unglück war so groß, daß es ihn aus der Gemeinschaft der Brüllenden, und das heißt: aller Menschen, ausschloß und zu einem tragisch Vereinzelten machte. Rotzoff sah den Mann mit Widerwillen, als könne fremdes Unglück ihn nach unten ziehen. Dieser Mann, wie er da stand und litt, der würde sich doch einen Dreck um Rotzoffs Lage scheren, sollte er davon erfahren.
    Hier zeigte sich, daß dem jede Erscheinung unmittelbar und ausschließlich nur auf sich selbst Beziehenden doch etwas entging. Denn der Anblick des geschlagenen Trainers konnte durchaus ergreifen. Gedrungen, halslos, kurzbeinig – zehn Zentimeter, gar nicht viel ist das, aber wieviel macht es für ein Bein aus, wenn sie fehlen! –, jedoch mit einem schönen Kopf, der auf Fernwirkung angelegten Schönheit eines Opernsängers, von Löwenmähne mit Silberhaar umgeben – in elegantem Anzug, die Hose war etwas unter den sich nur wenig vorwölbenden Bauch gerutscht, die Krawatte gelockert – sie war dunkel, hatte er wirklich vorausahnend Trauer angelegt? –, so stand er am Rand des Spielfelds, zur ohnmächtigen Beobachtung gezwungen, wenige Schritte der Unfreiheit

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