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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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hin und her machend, Xerxes, die Schlacht vom Feldherrnhügel verfolgend. Er wiegte den Kopf wie ein Mann, der soeben seinem Schicksal begegnet. Im Tosen der Lärmglocke über dem Stadion war er allein wie auf sturmzerzauster Heide. In seinem Schmerz lag eine übermenschliche Distanz, ein Blick in die Notwendigkeit des Untergangs und das Erkennen der Grausamkeit – zu wissen, man ist der bessere Mann, und zu wissen: Time of chivalry has gone. Als einer seiner Spieler auf ihn zutrat, umarmte er den Schweißüberströmten innig; dem war das peinlich, er hatte es nicht verdient, hatte sogar versagt und guckte wie ein aufsässiger Schüler, der bestraft wird und nichts bereut. Als er sich aus der Umarmung wand, ließ der zerstörte Heldenvater die Arme sinken. Mir war, als ob er jetzt, so beseelt, wie er die Augen zum Himmel richtete, eigentlich hätte beginnen müssen zu singen, am besten etwas von Puccini, »E lucevan le stelle«, der Lärm würde allmählich verebben, der Gesang würde das ganze Stadion erfüllen und verzaubern, und das große Leid bemächtigte sich aller Herzen, und die Erinnerung an die Niederlage verblaßte.
    »Eine elende Schwuchtel«, sagte Rotzoff scharf. Die anderen Herren lachten freundlich, das Gemeinschaftserlebnis bestätigend – köstlich, der Mann. Aber Rotzoff hatte keine Muße, sich in solcher Zustimmung auszuruhen. Sein Gesicht wurde ernst. Der Augenblick blitzartigen Handelns war gekommen. Doktor Glücks in der Verwaschenheit doch erwartungsvolle Miene war im Türrahmen aufgetaucht, ja, es war wirklich, als sei er unter Wasser herangeschwommen und habe den nassen Kopf soeben aus der Flut gehoben. Rotzoff erhob sich, vergaß nicht, sein Glas mitzunehmen, trat auf Glück zu, nahm ihn beim Arm und führte ihn ohne Erklärung hinaus auf die Terrasse.

Achtzehntes Kapitel
    Löckchen drehen
    Ich habe lange Pech gehabt; ich fürchte, mein Pech wurde anderen Leuten geradezu sichtbar, als ob mich eine düstere Wolke umstände. Mit keinem meiner Vorhaben ging es voran. An die Doktorarbeit habe ich so viel Zeit gewandt, bis sie schon stank. Und als sie dann mit Mühe und Not endlich geschrieben war und, ein grüner Pappband mit prahlender Goldschrift, vor mir lag, da war es, als ob dieses Haupthindernis, ins Leben zu treten, seinen eigentümlich unwirklichen Charakter jetzt erst offenbaren wollte: Gar nichts hatte sich an meiner Lage durch dies übersorgfältige und weite Strecken hindurch todlangweilige Werk geändert. Viele Leute glaubten, ich sei längst promoviert – und das hieß nichts anderes, als daß sie mich auch als Herrn Doktor keineswegs einzustellen gedachten. Anderen entging nicht, wie spät dieser Schritt geglückt war; mir will heute vorkommen, daß eine verspätete Promotion mindestens ebenso bedenklich ist wie eine geplatzte – ja, die verspätete vermittelt womöglich noch mehr den Eindruck von Lebensschwäche und Entscheidungsunfähigkeit als die im Zorn hingeworfene. Das Einscheren in ein geeignetes Lebensgleis, auf dem es dann gebahnt dahingehen würde, wollte nicht gelingen. Mir kam oft vor, als läge dies Gleis, das mir bestimmte, in unmittelbarer, greifbarer Nähe – aber wie es mit Gleisen ist: Man kann, wenn sich keine Weiche findet, lange hoffnungslos daneben herlaufen. Der einzige Trumpf, den ich in Händen zu haben glaubte, blieb, daß ich noch nicht vierzig war. Noch eine unabsehbare Ewigkeit von viereinhalb Jahren von dieser magischen Zeitschwelle getrennt, jenseits derer man, wie man auch aussehen und sich fühlen mochte, für niemanden mehr ein junger Mann ist. In einer schlaflosen Nacht – zum Glück selten, ich besitze nicht genug Seelenkraft, um Schlaflosigkeit länger durchzuhalten – wurden die bewußten viereinhalb Jahre dann allerdings zu dem, was sie tatsächlich sind: Noch nicht einmal fünf mehr, der Sand rieselte ohne Pause durch die feine Öffnung des Stundenglases und bildete einen Dünenhaufen wie in einer kleinen Sahara, an dem von Zeit zu Zeit größere Sandbretter in die Tiefe rutschten.
    Da war, was ich mit Winnie erlebte, eine wirkliche Verjüngung. »Sterbensängste, weggeblasen«, heißt es in einem antiken Gedicht, das vom Hin und Her der verliebten Seelen beim Küssen handelt. Sie schloß mir jenen Raum der großen Zeitlosigkeit wieder auf, in der sie als Anfang-Zwanzigjährige lebte. Und in unserem Jahrhundert war dies tatsächlich ein vom Erwachsensein streng getrennter Raum, ein Zustand, der sich von den späteren Jahren

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