Das Blutbuchenfest
mir in einer Nacht, in der mir ihr Aufbruch besonders unwillkommen war. Sie hörte meiner Stimme die Enttäuschung an und führte mich schnell darüber hinweg, niemand sollte sich ihretwegen grämen.
Und auch sie selbst wollte sich mit Versäumtem, Verlorenem nicht belasten. Schon war sie zu einem anderen Thema gehüpft. Gerade dieses Gespräch ist mir gegenwärtig geblieben. Es fand kurz vor meiner größeren Reise auf Mestrovics Spuren statt. Ich war von Aufbruchs- und Abschiedsstimmung erfüllt und deshalb vielleicht auch verstimmt, daß das Abschiedsfest nicht länger dauern sollte. Gerade ihre Worte über das Vergessen waren es, die ich behielt.
Es ging um Tante Beate, die immer Vergeßlichere. Das Behaltenkönnen wurde in ihrer Lage zu einer regelrecht physischen Tätigkeit: mit den Händen und Armen festhalten, was einem zugeworfen wird, und dies gelang nicht mehr, die dicken Arme und die feinen weichen Hände bekamen nichts mehr zu fassen, und so gelangten die Informationen des Tastbaren, Wägbaren auch nicht mehr ins Hirn.
»Und ausgerechnet das Kätzchen hat sie nicht vergessen!« Winnie hatte recht, darüber zu staunen, denn sie bekam den Verfall der Tante am eindringlichsten mit. Auch die Ärztin sei verblüfft.
»Wo es jetzt sein mag?« Eine Frage wie ein vorbeihuschender Nachtfalter, aber wie diese schwere- und beinahe körperlosen Schmetterlinge sich unversehens unter einem Lampenschirm um die Glühbirne herum verirren können und dort zappeln bleiben, mit den zarten Flügeln Kräfte entwickeln und hörbar damit aufschlagen, so blieb mir diese kleine Frage im Kopf.
Keinen Augenblick wäre mir dabei unterlaufen, irgendwie verblüfft oder irritiert nachzufragen, wie sie das denn meine; die Katze war doch tot? Ein Überprüfen ihrer Aussagen – das Wort spricht schon für sich! – auf Widersprüche hin verbot sich ganz grundsätzlich. Winnie einer Inquisition unterwerfen – für mich eine Lächerlichkeit, die das Zeug hatte, dennoch alles zu zerstören. So wie Winnie dachte und empfand, so wie sie tatsächlich einmal eine Weile schweigend meiner Erzählung von der Schildkröte und ihren verschiedenen Existenzformen gefolgt war, ganz selbstverständlich meine Phantasien aufnehmend, konnte sie nur ein geistiges Weiterleben der Zucker-und-Zimt-Katze im Auge haben, eine Vorstellung, von dem Kätzchen unsichtbar weiter begleitet zu sein oder allmählich von ihm verlassen zu werden, weil sich dies geliebte Wesen andere, seiner luftigen neuen Verfassung angemessenere Räume erschloß. In welchem Elysium mit zuckerbeschneiten Berggipfeln und zimtbestäubten Abhängen, die von milchsprudelnden Quellen durchströmt waren, von Astralmäuschen durchhuscht, die weniger Beutetiere als Spielgefährten wären, mochte sie nun herumtollen?
Winnie verhielt sich mir gegenüber genauso. Mir unterlief es manchmal, je länger ein solches Telephonat dauerte, daß ich sprechend in Halbschlaf hinüberglitt und das vernünftig Begonnene sehr dunkel, mir selbst unverständlich fortsetzte; bei diesem letzten Gespräch vor der Bosnien-Reise – angeregt durch die Mexiko-Reklame oder meinen bevorstehenden Flug – überraschte ich mich, aus wirklicher Trance auftauchend, bei der Bemerkung »von einem schwarzen Punkt in der Mitte, einer verfinsterten Sonne fliegen strahlenförmig zwölf Flugzeuge in alle Richtungen«; das Bild sehe ich noch vor mir, worauf es sich bezieht, ist mir bis heute verborgen, aber Winnie wunderte sich nicht im mindesten und ertappte mich auch nicht beim Eingeschlafensein, sondern fuhr, durch diese Vorstellung spürbar inspiriert, fort: »Ja, und das Besondere ist, daß die schwarze Sonne dennoch scheint – und wie! Sie blendet sogar.«
Sie war nicht in mein Leben hineingeflochten. Sie begleitete es unsichtbar und konkretisierte sich nur in den verzauberten Nachtstunden. Mit mir bei Merzinger essen zu gehen lehnte sie – die zu allem sonst stets Ja-Sagende – strikt ab, wobei mir nicht klar wurde, ob sie das Restaurant kannte oder ob ihr nur dessen Fama bekannt war – oder wollte sie bloß Inge Markies nicht mit mir zusammen begegnen? Aber solche nachvollziehbaren, naheliegenden Erklärungen griffen bei ihr nicht, so einfach war das nie – es mochte der Namensklang sein, der sie störte: Merzinger, Nerze ausmerzen, kommerziell – was weiß ich, woran sie dachte!
So hatten wir denn in einem kleinen thailändischen Lokal etwas gegessen, sie mochte die Hühnersuppe mit Koriander dort,
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