Das Blutgericht
Jorgenson ihm entkommen war.
Wütend, dass Marianne Dean ihm entkommen war.
Aber noch wütender war er darüber, dass Hunter und Rink ihn geschlagen hatten.
Was ihn jedoch am meisten ärgerte, war diese tropfnasse Stelle an seinem Hosenbund. Sein Buch war vollkommen durchnässt. Er hatte Angst, es auszupacken. Fürchtete sich vor dem Anblick. Das Buch war ihm kostbar, aber noch kostbarer waren für ihn die Zahlen darin.
Sie ergaben die Summe seines Lebenswerks.
30
Es dauerte keine Stunde, bis Rink wieder zurückkehrte. Er sah noch griesgrämiger aus als vorher. Er hatte dunklen Schlamm an den Stiefeln, auch die Rückseite seiner Jeans war damit gesprenkelt. Sogar auf seinem schwarzen T-Shirt, in seinem Gesicht und auf seinen Unterarmen klebten Dreckspritzer.
»Fast wäre ich mit der Scheißkarre in den Sumpf gerutscht«, verkündete er und lächelte dann. Es tat gut, ihn so zu sehen. Es waren die ersten Lichtstrahlen, die sich ihren Weg durch die dunkle Wolke bahnten, die seit der Nachricht aus San Francisco über seinem Kopf hing.
Er hielt sein Mobiltelefon in der linken Hand.
»Gibt es Neuigkeiten?«
»Ja«, sagte Rink. Er warf einen Blick in die Runde und bemerkte, dass auch Harvey und Marianne ihn erwartungsvoll ansahen. »Die Ärzte haben meine Mutter stabilisieren können. Es geht ihr schon wieder viel besser. Sie liest sogar schon meinem Vater die Leviten, weil er mich von meiner Arbeit abhalten wollte.«
Ich ging zu meinem Freund und nahm ihn in die Arme.
»Danke, Joe«, sagte er. Er nennt mich nicht oft bei meinem Vornamen. Nur in Momenten der Vertrautheit wie diesem. Es bedeutet mir eine Menge. Und es bekräftigt unser brüderliches Verhältnis.
Auch Harvey kam zu ihm. Er umarmte Rink, und sie sagten sich beide, was gesagt werden musste.
Marianne wusste nicht, was sie tun sollte. Sie setzte sich auf das leere Bett, stützte die Ellenbogen auf die Knie und lächelte Rink an. Mein Freund ist nicht gerade sehr zurückhaltend bei jungen Frauen. Er kam zu ihr, setzte sich neben sie, tätschelte ihr Knie und sagte: »Okay Marianne, jetzt, wo das geklärt ist, können wir Ihre Probleme lösen.«
Marianne nickte mit dem Kopf und lächelte traurig. Dann fragte sie. »Ist Ihre Mutter krank?«
»Ja«, bestätigte Rink. Er führte es nicht weiter aus, aber das musste er auch nicht. Wie ernst die Situation gewesen war, musste sich ihr aus unserer Reaktion auf die guten Nachrichten erschlossen haben.
»Und Sie lebt so weit weg von Ihnen an der Westküste?«
»Ja.«
Tränen schossen Marianne in die Augen, weil ihr klarwurde, dass manche Menschen doch nicht so selbstsüchtig waren, wie sie immer gedacht hatte. Es bestätigte, dass es immer noch das Gute in der Welt gab. Hier waren drei Männer, die bereit waren, ihr Leben für sie zu riskieren. Die ihre eigenen Wünsche und Befindlichkeiten hintanstellten, damit sie für ihre Sicherheit sorgen konnten. »Danke … äh, Rink«, flüsterte sie. Dann hob sie den Kopf und sah Harvey und mich an. »Ich danke Ihnen allen.«
»Nichts zu danken«, sagte er ihr in unser aller Namen. Er tätschelte noch einmal ihr Knie, dann erhob er sich elegant. Er nickte zum Bad. Hinter der geöffneten Tür hing immer noch der Wasserdampf in der Luft. Er blickte auf seine schlammverkrusteten Arme. »Außer, Sie haben das ganze heiße Wasser aufgebraucht«, sagte er in gespielter Verärgerung.
Marianne lächelte wieder, aber dieses Mal sah sie dabei nicht mehr so traurig aus.
Auch mir ging es schon viel besser. Ich drehte mich zu Harvey um.
Er war an seinem Computer zugange gewesen.
»Hunter, komm her und sieh dir das mal an«, sagt er.
Ich ging zu ihm.
Auf dem Bildschirm hatte er die CNN-Nachrichtenseite aufgerufen.
Ein Bericht über das mysteriösen Verbrechen an einer jungen Familie: Nathaniel und Caitlin Moore und ihre achtjährige Tochter Cassandra waren in ihrem Haus in einem Vorort von Miami ermordet worden.
Ja, es war traurig. Das ist die fürchterliche Realität der Welt von heute: Ein Typ mit seinen kranken Fantasien kann eine ganze Familie vom Angesicht der Erde auslöschen. Es waren Geschichten wie diese, die mich dazu brachten, das zu tun, was ich tat.
»Was hat das zu bedeuten, Harvey?«, fragte ich.
»Du sagtest, der Schütze hätte eine Beretta 92 benutzt«, meinte Harvey.
Ich erinnerte mich daran, wie ich in den Lauf der Pistole starrte und dachte, dass ich dem 9mm-Geschoss niemals entgehen würde. In diesem lichten Moment, in dem mein Gehirn auf
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