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Das Boese in uns

Das Boese in uns

Titel: Das Boese in uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cody Mcfadyen
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nackten Oberschenkeln zerplatzen. Übelkeit steigt in mir auf, als ich sehe, dass sie von oben bis unten eine Gänsehaut hat. Er muss ihre Angst buchstäblich gerochen haben.
    »Willow«, drängt er so sanft wie eh und je. »Die Narben. Oder ich muss dir noch einmal wehtun.«
    Seine Worte lassen Willow so heftig erschauern, dass ich die Stuhlbeine auf dem Boden klappern höre.
    »Nein!«, kreischt sie.
    »Dann rede bitte. Erzähl mir von deinen Narben.«
    »Aber Sie wissen doch schon alles!«, jammert sie. »Ich weiß, dass Sie es wissen. Sie haben es mir selbst gesagt!«
    »Das stimmt, aber ich möchte, dass du es vor der Kamera wiederholst.«
    Sie hört auf zu zittern. Stößt einen Seufzer aus. Ein neuerliches tiefes Atemholen und ein geräuschvolles Ausatmen. Sie lässt den Kopf nach vorne fallen, sodass ihr die glatten Haare ins Gesicht hängen, wobei die Spitzen die tränenfeuchten Oberschenkel berühren.
    »Wir haben uns manchmal gegenseitig geritzt«, flüstert sie.
    »Wer? Du und wer noch?«
    »Ich und Mandy. Mandy war meine Schwester. Sie war zwei Jahre älter als ich. Wir kamen zusammen in ein Kinderheim, weil Mom und Dad uns so viel geschlagen haben. Mandy hat mir vom Ritzen erzählt... dass es einem besser geht, wenn man sich selbst wehtut.«
    »Und hast du dir wehgetan?«
    »Ja.«
    »Sprich weiter.«
    »Wir benutzten ein Rasiermesser. Meist schnitten wir uns in die Innenseite unserer Beine, oberhalb der Stellen, die man sehen konnte, wenn wir Röcke trugen. Manchmal haben wir uns gegenseitig geritzt.«
    »Und das habt ihr auch an dem Tag getan, nicht wahr? Euch gegenseitig geritzt?«
    »Ja.« Es ist die kleinlauteste Stimme, die ich je gehört habe. Fast unhörbar leise.
    »Und was ist passiert?«
    »Sie ... sie hat mich zuerst geschnitten. Es war ... wunderbar. Ich kann es nicht beschreiben. Bevor man sich schneidet, fühlt man sich taub und voller Angst, alles ist unwirklich ... aber dann kommt der Schnitt, und der Schmerz ist wirklich da, scharf und süß und ... jetzt. Keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur das Jetzt. Wenn wir uns geschnitten haben, ging es immer nur um diesen einen Moment. Wir fühlten uns lebendig ...«
    »Sprich weiter.«
    »Mir war ganz heiß, und ich fühlte mich gut, so gut. Mandy hatte mich ziemlich tief geschnitten. Sie sah, wie gut es mir tat, und sagte, ich solle sie genauso tief schneiden ... ganz tief. Also tat ich es.«
    »Hast du zu tief geschnitten, Willow?«
    Sie hebt den Kopf, und ich sehe entsetzt, wie weiß ihr Gesicht ist. Es ist das Gesicht einer Toten.
    »Ich habe in die Arterie geschnitten«, flüstert sie. »Mandy war immer so dünn ... wir beide waren dünn. Ich habe gedrückt, und ich habe nicht richtig aufgepasst, weil ich immer noch das Adrenalin in mir hatte und die Endorphine von ihrem Schnitt, und da habe ich zu tief geschnitten. Sie fing an zu bluten, zu stark, viel zu stark ...«
    Sie verstummt.
    »Erzähl uns den Rest, Willow. Was hast du anschließend getan?«
    Ich sehe zum ersten Mal, dass in dieser Frau einmal Kraft gewesen ist. In ihren Augen funkelt abgrundtiefer Hass auf den Prediger. Wenn sie könnte, würde sie ihn mit dem Rasiermesser aufschlitzen.
    »Ich habe ihr gesagt, dass sie zu heftig blutet. Mandy sah an sich herab und ... und ... lächelte. Sie lächelte. Sie sagte mir, dass ich rausgehen und keinem sagen sollte, dass ich es war, die den Schnitt gemacht hat. Ich sagte Nein und dass sie Hilfe brauchte, aber sie erwiderte nur, es sei zu spät, sie würde sterben und es wäre okay, alles in Ordnung, und sie wollte nicht, dass ich deswegen in Schwierigkeiten käme, darum sollte ich gehen und zurückkommen und so tun, als hätte ich sie so gefunden und als wäre ich total überrascht ... und das hab ich dann auch getan, habe bis fünf gezählt und bin ins Zimmer zurück, und Mandy verlor bereits das Bewusstsein, und ich schrie, und überall war Blut, Blut und ...«Ihr Redeschwall verstummt nur zum Luftholen; dann ein weiteres tiefes Seufzen. »Ich hielt sie und versuchte die Blutung zu stoppen, aber es war zu viel. Ich stand in einer Lache ... ich hätte schwimmen können in ihrem Blut.« Ein Herzschlag lang Schweigen. »Und dann starb sie.«
    »Hast du getan, was deine Schwester gesagt hat, Willow? Hast du so getan, als wärst du es nicht gewesen?«
    Sie nickt. Sie ist womöglich noch blasser geworden. Ihre Augen funkeln voller Hass, nacktem Hass.
    »Sag es, Kind«, fordert er sie auf.
    Sie schüttelt sich, ein heftiges Erschauern, das

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