Das Boese in uns
nie so wortlos und ausweichend erlebt. Sie ist normalerweise so subtil wie eine Zweijährige.
»Willow war die Freundin von einem Freund. Sie war Zivilistin. Ist sie immer gewesen. Sie wurde unschuldig geboren und starb wahrscheinlich unschuldig. Sie war ein naives Ding, wie eine junge Katze, viel zu zutraulich für diese Welt. Sie war nicht so wie ich oder mein Freund. Wir waren niemals Zivilisten. Wir wurden schon fertig geboren, bereit für den Rock 'n' Roll und den ganzen Mist, den die große weite Welt zu bieten hat. Nicht Willow. Willow war schwach.«
»Wie war der Name dieses Freundes?«
Erneut der tadelnd erhobene Zeigefinger. Ein schiefes Grinsen. »Netter Versuch. Aber ich bin nicht bereit, dir diese Information zu geben. Noch nicht.«
»Ist es von Bedeutung?«
»Wäre ich der Meinung, dass wir dann herausfinden könnten, wer der zukünftige Tote ist, würde ich dir den Namen nennen.«
Der zukünftige Tote. So, wie sie es sagt, klingt es nach absoluter Gewissheit.
»Bist du sicher?«
»Willow hat die richtige Entscheidung getroffen. Sie hat sich von uns losgesagt, um ein ruhiges, normales Leben zu führen. Wir haben nie wieder miteinander geredet, doch ich habe mich hin und wieder nach ihr erkundigt, um sicher zu sein, dass niemand sie übervorteilt. Eines Tages war sie verschwunden. Ich benutzte meine ... Quellen, um sie aufzuspüren, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Es war, als wäre sie eines Nachts aufs Meer geschwommen und nie zurückgekehrt.«
»Wann war das?«
»Vor ungefähr zehn Jahren.«
»Hat sie Familie?«
Kirby nimmt sich lange Zeit, bevor sie antwortet. »Nein. Sie war eine Waise.« »Ich verstehe.«
Ich warte auf mehr. Kirby lächelt.
»Eher friert die Hölle zu«, sagt sie schließlich. »Sie war eine Waise, sie verschwand vor zehn Jahren aus dem sonnigen Los Angeles, und sie hat in ihrem ganzen Leben niemals absichtlich einem anderen Menschen wehgetan außer sich selbst. Das ist alles, was du wissen musst.«
Ich erzähle ihr von den Videoclips und worum es darin geht. Ich beobachte ihr Gesicht, während ich rede, suche nach einem verräterischen Zucken, einem Riss in der Fassade. Doch Kirby lauscht nur und zwirbelt eine Strähne blonder Haare um den Zeigefinger.
»Ich verstehe«, sagt sie, als ich geendet habe.
»Kirby, hatte Willow ein Problem, von dem du weißt? Hat sie getrunken? Drogen genommen? Ist sie zu Treffen von Selbsthilfegruppen gegangen? Irgendetwas in der Art?«
»Ja. Sie trank. Sie hatte allerdings damit aufgehört. Sie war bei den Anonymen Alkoholikern und hat sich da schwer engagiert.«
Bingo, denke ich.
»Sonst noch etwas, das du mir über Willow Thomas erzählen kannst?«
»Nichts, das dir weiterhelfen würde.« Sie beugt sich vor. Wieder habe ich das Gefühl von etwas Elektrischem in der Luft. »Du hast also noch keine Ahnung, wer der Typ ist?«
»Keine.«
Kirby nickt. »Schön. Okay. Ich schätze, damit wären wir fertig.« Sie steht auf und will gehen.
»Kirby? Möchtest du den Clip sehen?«
Sie hat die Hand am Türknauf, steht mit dem Rücken zu mir. Sie zögert.
»Nein«, sagt sie dann. »Ich kenne das Geheimnis, das Willow für sich behalten wollte.«
Sie dreht den Knauf und geht.
Eine Zivilistin. So hat Kirby die Tote genannt, Willow Thomas. Ich verstehe, was sie gemeint hat, während ich die Frau in dem Videoclip beobachte.
Sie hat genau dieses Aussehen. Als wären die Grausamkeiten des Lebens eine ständige Überraschung, von denen sie sich immer wieder betrogen fühlt. Sie hat in einer Märchenwelt überlebt, bis jemand sie gepackt und auf den Boden der Tatsachen gezerrt hat.
Es war das Ergebnis von fürchterlichem Schmerz, der ihr zugefügt wurde und von dem sie sich niemals erholt hat.
Sie ist schön, auf eine ätherische, durchscheinende Weise. Sie hat glattes dunkles Haar und ist so dünn, dass es schmerzt. Doch dieses Ausgemergelte unterstreicht ihre Schönheit noch, wie es bei manchen - wenigen - Frauen der Fall ist. Ihre Haut ist sehr blass, nur die Wangen zeigen ein wenig Farbe. Ihre Lippen sind voll und rot.
»Erzähl mir von deinen Narben, Willow«, sagt der Prediger zu ihr.
Sie zittert. Ihre Blicke zucken hierhin und dorthin - links, rechts, auf ihn, dann direkt in die Kamera, sodass ich das Gefühl habe, sie würde mich ansehen. Ihre Tränen kommen nicht ununterbrochen; es braucht Zeit, bis ihre Augenwinkel sich mit Flüssigkeit füllen, bis große Tropfen über ihre Wangen kullern und dann auf ihren
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