Das Boese in uns
Möglichkeit, dass jemand den Beichtstuhl verwanzt hat.
Vater Yates geht auf und ab. Er ist aufgeregt und wütend, besorgt und erschüttert. Ich kann ihn verstehen. Ich denke an das, was wir vor wenigen Minuten dort drin getan haben, und erschauere bei der Vorstellung, dass jemand uns belauscht haben könnte. Für ihn muss es noch zehnmal schlimmer sein, weil er sich dafür verantwortlich fühlt.
»Wenn das stimmt, dann ... es ist furchtbar, ganz furchtbar«, sagt er. »Die Gläubigen sind nicht mehr sicher, wenn sie zur Beichte kommen. Und diejenigen, die gebeichtet haben, werden sich betrogen fühlen. Es wird zu Vertrauenskrisen kommen.«
Der arme Mann sieht völlig erschüttert aus. So habe ich ihn noch nicht gesehen. Es macht mich betroffen, denn ich habe mich an das tröstliche Gefühl seiner Unerschütterlichkeit gewöhnt.
»Vater, ich muss Ihnen eine Frage stellen.«
Er bleibt stehen. Fährt sich mit der Hand durchs Haar.
»Natürlich. Fragen Sie.«
»Ich brauche Gewissheit. Sie haben gesagt, Sie hätten sich keinen der Videoclips von den Opfern des Predigers angesehen. Was ist mit dem von Rosemary? Dem Clip, in dem er seine These kundgetan hat?«
»Ich habe ihn mir nicht angeschaut. Ich konnte es nicht ertragen.«
»Ich muss Sie nach dem Geheimnis fragen, das Rosemary in diesem Clip offenbart hat. Es war eine ziemlich üble Sache, und er wusste sie bereits. Ich werde Ihnen sagen, was es war, und ich möchte von Ihnen wissen, ob Rosemary in der Beichte darüber gesprochen hat.«
»Ich kann nicht gegen das Beichtgeheimnis verstoßen!«, protestiert er heftig. »Rosemary Sonnenfelds Tod entbindet mich nicht von diesem Gelübde.«
»Kommen Sie, Vater. Selbst dann nicht, wenn es hilft, Rosemarys Mörder zu fangen? Er wird bald ein Kind töten, wenn wir ihn nicht fassen!« Ich zeige mit dem Finger auf ihn. »Von diesem Haken lasse ich Sie nicht so schnell! Ich verstehe, dass es wegen des Beichtgeheimnisses ein großes Problem für Sie ist, aber Sie müssen genau überlegen, was richtig ist und was falsch! Rosemarys großes Geheimnis ist bereits frei zugänglich im Internet, wo jeder es sehen kann! Wie könnten Sie das noch schlimmer machen? Wenn Sie mich fragen, können Sie es nur besser machen.«
»Ach wirklich?« Seine Stimme ist schroff. »Ich will Ihnen eine Frage stellen, Smoky. Wenn Sie morgen sterben würden, wäre es Ihnen dann egal, ob ich öffentlich mache, worüber wir vorhin im Beichtstuhl gesprochen haben?«
Die Frage macht mich im ersten Moment sprachlos. Meine unwillkürliche Reaktion lautet: Scheiße, nein!
Touche, Vater.
»Unter normalen Umständen selbstverständlich nicht. Aber wenn man mich ermordet hätte wie Rosemary Sonnenfeld? Wenn man mich gezwungen hätte, alles noch einmal vor der Kamera zu erzählen, damit es der Welt offenbart wird?« Ich trete dicht vor Vater Yates hin, zwinge ihn, mir in die Augen zu sehen. »Mein Wunsch wäre, dass Sie alles nur Erdenkliche tun, um diesen Kerl seiner gerechten Strafe zuzuführen!«
Ich kann seinen inneren Widerstreit sehen, kann ihn verstehen. Vater Yates ist ein Mann der Überzeugungen, ein wahrer Gläubiger, der praktiziert, was er predigt. Er lebt sein Leben nach unverletzlichen Grundsätzen, deren Festigkeit und das simple Schwarz und Weiß ihn in seinem Glauben verankert halten, wenn er sich durch Grauzonen bewegt, die manche andere an ihrem Glauben verzweifeln ließen. Die Rosemarys dieser Welt sind komplizierte Menschen. Es muss schwierig sein, sich mit ihnen zu befassen. Ich kann Vater Yates' Bedürfnis nach Gewissheit verstehen.
»Also schön, sagen Sie es mir«, sagt er schließlich. »Wenn Ihre Theorie eine nähere Betrachtung verdient, werde ich Ihnen ein Zeichen geben. Ich werde keine direkte Aussage zum Inhalt von Rosemarys Beichte machen, aber ich werde ein Zeichen geben.«
Ich kann sehen, dass selbst dieser Kompromiss ihm zu schaffen macht.
»Danke, Vater.«
Ich erzähle ihm, dass Rosemary ihren Bruder verführt und dass Dylan sich daraufhin das Leben genommen hat. Vater Yates' Gesicht ist die ganze Zeit eine starre Maske. Als ich geendet habe, sieht er mir in die Augen und bekreuzigt sich.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen«, murmelt er.
Aufregung erfasst mich und verdrängt alles andere.
»Ich brauche morgen Zugang zum Beichtstuhl, Vater. Gleich morgen früh. Ich werde ein Team hierher schicken, das den Beichtstuhl und den Rest Ihrer Kirche nach Wanzen absucht.«
Er seufzt.
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