Das Boese in uns
geraten kann. Männer betrügen, Frauen betrügen, Männer lügen, Frauen lügen. Geliebte töten Frauen, Frauen töten ihre Männer ... oder vielleicht ist alles in Ordnung, und sie sterben beide an Krebs. Manchmal ist es ein langsamer Tod. Jahre voller kleiner Geheimnisse führen zu großem Misstrauen, und irgendwann hat die Ehe weniger mit Liebe als mit Leidensfähigkeit zu tun.
Bei Matt und mir war es nie so. Wir hatten unsere Kämpfe. Wir haben manchmal tagelang nicht miteinander geredet. Doch am Ende haben wir immer wieder zusammengefunden, und wir haben uns geliebt. Ich habe ihn nie betrogen, und ich bin sicher, dass er mich niemals betrogen hat.«
»Dann war es also ungewöhnlich, eine Ausnahme, die Schwangerschaft vor ihm zu verheimlichen.«
»Es war sehr ungewöhnlich. Man verheimlicht Kleinigkeiten. Das gehört dazu, wenn man mit einem anderen Menschen zusammenlebt. Manche Dinge muss man einfach für sich behalten. Aber nicht die großen Sachen. Man verheimlicht keine Schwangerschaft, und man verheimlicht ganz bestimmt keine Abtreibung. Wir jedenfalls waren nicht so.«
»Hat er es vor seinem Tod erfahren?«
»Nein.«
»Glaubst du, du hättest es ihm erzählt?«
»Ich würde es gerne glauben. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Was ist aus dem Kind geworden?«
Das ist die entscheidende Frage. Sieh mich an, sagt die Stimme. Tue ich! Tue ich! In grellem Neon, im Licht von zehntausend Zehntausend-Watt-Scheinwerfern.
»Es geht nicht so sehr darum, dass ich das Baby abgetrieben habe, Vater«, sage ich, »sondern warum.« Meine Stimme klingt leer. Ich bin erschöpft. Ich wäre lieber irgendwo anders, egal wo, nur nicht hier. »Ich wollte mich umbringen, aber ich wusste, dass ich das niemals fertigbringen würde, solange ich ein Baby in mir trug. Also sagte ich dem Arzt, er solle sich darum kümmern.« Ich bin müde, schrecklich müde. »Es war das letzte kleine Stück Matt, direkt in mir, in meinem Leib, bereit zu wachsen und geboren zu werden und weiterzuleben. Matt musste nicht enden, wir mussten nicht enden in jener Nacht. Sands hat mir das nicht genommen. Er hat mein Baby nicht getötet. Das habe ich selbst getan. Ich.«
Ich fange an zu weinen.
»Gibt es noch mehr?«, fragt Vater Yates.
»Ob es noch mehr gibt? Selbstverständlich gibt es noch mehr. Ich bin hier, sehen Sie nicht? Ich habe das Baby abtreiben lassen, damit ich mich umbringen kann, und am Ende habe ich es nicht einmal versucht! Das Baby ist umsonst gestorben! Für nichts und wieder nichts! Ich ... ich ... ich ...« Ich will die Worte nicht sagen, aber ich muss. »Ich habe das Baby getötet, Vater. Ich habe es ermordet.«
Ich kann nicht mehr weiterreden. Ich kann nur noch weinen. Ich weine nicht um mich selbst. Ich weine, weil eine der letzten Handlungen meiner Ehe darin bestand, meinen Mann zu belügen. Ich weine bei dem Gedanken, dass Alexa eine kleine Schwester oder einen Bruder hätte haben können. Vor allem aber weine ich wegen dieses ungeborenen Kindes. Es wäre eine Chance gewesen, etwas von dem zurückzuholen, was Sands gestohlen hat. Ich habe diese Chance in einem Moment der Agonie weggeworfen. Es geht nicht darum, ob Abtreibung richtig oder falsch ist. Es geht um die Gründe für diese Entscheidung, den Schmerz, die Selbstsucht, das Vielleicht, das Könnten-gewesen-sein. Um das Elend und die Verzweiflung des Begreifens, dass man etwas Furchtbares getan hat, das man nie wieder ungeschehen machen, nie wieder gutmachen kann.
Ich weine und weine, und Vater Yates lässt mich. Er sagt nichts, doch ich spüre seine Gegenwart, und sie ist tröstlich.
Ich weiß nicht, wie lange es so geht. Irgendwann verebbt der Schmerz. Doch er ist nicht ganz verschwunden, nur weniger heftig-
»Smoky, ich habe nicht vor, dir mit der Heiligen Schrift zu kommen. Ich weiß, dass dein Glaube nicht stark genug ist. Aber was du getan hast, war falsch. Die Gründe waren falsch. Das weißt du selbst. Was aber ist die eigentliche Sünde? Was ist es, das diesen Schmerz in dir erweckt? Es ist die Tatsache, dass du das Geschenk des Lebens weggeworfen hast. Es ist mir egal, woher dieses Geschenk deiner Meinung nach kommt - von Gott, von der Ursuppe, von beidem —, doch Leben ist ein Geschenk, das weißt du selbst. Ich denke, du weißt es besser als die meisten anderen Menschen, schon wegen deines Berufs.«
»Ja«, flüstere ich.
»Siehst du denn nicht, was daraus folgt? Wenn du dir selbst weiterhin nicht verzeihen kannst, wenn du dir selbst weiterhin jede
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