Das Boese in uns
meiner Gravitation an. Sie kommen nahe heran, doch dann verschwinden sie, bevor sie die Küste erreichen.
»Weiter«, sage ich zu James.
»Er braucht Zugang, also muss er dort gewesen sein. Doch niemand erinnert sich an ihn.«
Ich richte mich kerzengerade auf.
Die Wellen treffen ans Ufer. Vor aller Augen.
»Weil er eben nicht da war!«, sage ich aufgeregt. »Er weiß, welchen Gesetzmäßigkeiten die Gruppen gehorchen, die er infiltrieren muss.«
Die Vertrautheit, die dadurch entsteht, dass man einräumt, ein Ausgestoßener zu sein. Und die Leute, denen man dies gesteht, akzeptieren einen dennoch, weil sie ebenfalls Ausgestoßene sind.
»Du meinst, jemand hat mit ihm zusammengearbeitet?«, sagt James. »Was hilft uns das jetzt? Er würde immer noch vermisst, wenn er nach dem Tod seiner Opfer verschwindet.«
»Richtig. Nur dass er nicht verschwunden ist, nachdem die Opfer tot waren. Er hat noch eine Weile gewartet, ein paar Wochen, einen Monat vielleicht, und ist dann erst gegangen. Er braucht kein Alibi, weil er genau wie der Rest der Gemeinde die ganze Zeit da war, während das Opfer entführt und getötet wurde.«
James runzelt die Stirn. »Das sind eine Menge Vermutungen.«
»Aber es sind logische Vermutungen, meinst du nicht?« »Sie ergeben Sinn«, räumt er ein.
»Wir müssen sämtliche Priester noch einmal anrufen. Diesmal müssen wir unsere Fragen ausweiten und uns nach Männern erkundigen, die sich nicht sofort nach dem Verschwinden der Opfer aus der Gemeinde zurückgezogen haben, sondern erst einige Zeit später. Außerdem müssen sie den Opfern nahe gestanden haben. Es gehört für sie dazu. Informationen sammeln, sich mit dem Leben des Opfers vertraut machen ...«
»Richtig«, sagt Alan. »Und diese Opfer sind instabile Menschen, die häufig den Wohnort wechseln oder durchs Land ziehen. Also muss es schnell gehen: die Wanze im Beichtstuhl anbringen, ein Opfer finden, zuschlagen. Sie können es sich nicht leisten zu verschwinden und später wiederzukommen. Sie würden Gefahr laufen, dass ihr ausgewähltes Opfer sich inzwischen aus dem Staub gemacht hat. Deshalb müssen sie konzentriert bei der Sache bleiben und vor Ort ausharren, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Und deshalb ...« »Ja?«
»Deshalb müsste zwischen den einzelnen Morden eigentlich ziemlich viel Zeit vergehen. Ein Opfer finden, es entführen, filmen, töten und dann weiterziehen ... das muss verdammt gut geplant werden. Das braucht eine Menge Logistik. Trotzdem haben wir drei Tote in weniger als zwei Wochen: Lisa Reid, Rosemary Sonnenfeld und Valerie Cavanaugh. Wenn ihr mich fragt, musste er sich bei wenigstens einem dieser Opfer selbst ins Zeug legen, um die erforderlichen Informationen zu sammeln, meint ihr nicht?«
»Guter Gedanke«, sagt Callie. »Aber bei welchem Opfer?«
»Lisa Reid«, sagt James und spricht damit den Namen aus, an den auch ich denke. »Es muss so sein. Sie ist die einzige Abweichung ... das einzige Opfer, das nicht als Frau geboren wurde. Sie ist außerdem diejenige, die er benutzt hat, um uns auf sich aufmerksam zu machen.«
Erneut spüre ich, wie sich Aufregung in mir ausbreitet. Die Wellen rollen heran, gischtend und tosend, und drohen alle gleichzeitig das Ufer zu erreichen.
»Wir müssen uns im Moment auf diese beiden konzentrieren«, sage ich. »Auf Lisa und Rosemary. Wie ist er überhaupt auf Lisa gekommen? Wie ist sie auf seinem Radar aufgetaucht? Sie hat sich nicht in seinen normalen Jagdgründen bewegt. Sie ist nicht zu ihm gekommen - er war hinter ihr her. Woher also wusste er überhaupt von ihr? Rosemary ist eines seiner letzten Opfer, und wir haben einen Anlaufpunkt in Vater Yates. Er muss sich an irgendetwas erinnern, an irgendjemanden, der ihr nahe stand, der ...«
Ich verstumme, als eine gigantische Welle ans Ufer rollt, donnernd und krachend, und die Gischt ist wie ein Nebel. Vor meinen Augen, direkt vor meinen Augen. Die Nebel lichten sich.
»Er hat es mir gleich zu Anfang gesagt«, flüstere ich.
»Wer hat was gesagt?«, fragt Callie.
»Yates. Wir wollten mit Rosemarys Freundinnen reden, aber sie hatte nur eine einzige - Andrea, die Ex-Polizistin.« Ich schlucke. Blicke Alan an. »Ruf Yates an. Finde Andreas Nachnamen heraus und überprüfe ihren Hintergrund. Ich habe das dumme Gefühl, dass wir einem Schwindel aufgesessen sind und dass sie schon lange nicht mehr existiert.«
Kapitel 36
»Lisa Reid war gewissermaßen ein interner Skandal für die Kirche«, sagt Kardinal
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