Das Boese in uns
Ross. »Der Gemeindepriester ist ein jüngerer Mann, Vater Strain. Er gehört zu einer kleinen, jedoch wachsenden Gruppe junger, aufgeweckter Geistlicher, die zwar respektvoll, aber kritisch sind gegenüber Rom, was sich verschiedentlich in Ansichten äußert, die von denen ihrer Kirchenoberen abweichen.«
»Ich nehme an, einer Transsexuellen die Beichte abzunehmen, würde dazu passen?«
»Ja und nein.«
»Wie meinen Sie das?« Ich runzle die Stirn.
»Die Haltung der Kirche gegenüber der Homosexualität ist unverändert. Homosexualität gilt als Sünde. Individuen, die ihr Geschlecht wechseln - also Homosexuelle, die sich mithilfe der modernen Medizin so verändern lassen, dass ihr Äußeres ihren inneren Wünschen entspricht -, werden als effeminiert angesehen. Die Veränderung des Körpers wird von der Kirche als nicht hinreichend betrachtet, um die Wahrheit zu überdecken, dass sie so geboren wurden, wie Gott sie erschaffen hat.«
»Also ist eine Person, die ihr Geschlecht gewechselt hat, für die Kirche ein Homosexueller.«
»Ja.«
»Sie sagten >effeminiert<. Was ist mit Frauen, die zu Männern werden?«
»Beide werden nach den gleichen Maßstäben beurteilt. Homosexualität ist eine Sünde.«
»Und was macht ein Homosexueller, der römisch-katholisch sein möchte?«
»Er kann das Sakrament der Buße erhalten und ist auch aufgefordert, es zu empfangen, bis er beschließt, sein Leben zu ändern und wieder zu dem zu werden, als das Gott ihn erschaffen hat, so wie die Bibel es verlangt. Wenn er nicht imstande ist, vollkommen >normal< zu leben und einen Partner zu heiraten, der dem anderen Geschlecht angehört, wird von ihm zumindest Keuschheit erwartet. Bis es so weit ist, dürfen Homosexuelle weder die heilige Kommunion noch die anderen Sakramente empfangen.«
»Das verstehe ich nicht. Was ist dann der Grund für den Konflikt mit diesem Vater Strain?«
»Es gibt zwei Gründe. Erstens hat Dexter Reid von Vater Strain die heilige Kommunion erhalten.«
»Und der andere Grund?«
»Gemeindemitglieder haben sich beschwert. So etwas hängt sehr davon ab, wo Sie leben, Agentin Barrett. Einem Homosexuellen in einer Kirche in Los Angeles mag durchaus eine andere Behandlung widerfahren als in einer Gemeinde in Texas.«
»Ich verstehe.«
»Vater Strain wurde lediglich ermahnt. Er wurde angewiesen, Dexter Reid keine heilige Kommunion mehr zu geben und vorsichtiger in seinem Umgang mit Dexter zu sein. Doch Vater Strain hat sich geweigert.«
»Was geschah mit ihm?«
»Nichts.«
Dieses »Nichts« hat einen Beiklang, der in mir den Verdacht aufkommen lässt, dass drei Worte fehlen: »Für den Augenblick.« »Was wird mit ihm geschehen?« »Das liegt in Gottes Hand.«
Ich kichere und schüttle den Kopf. In gewisser Hinsicht ist es tröstlich zu sehen, dass eine Bürokratie eine Bürokratie eine Bürokratie ist - überall auf der Welt. Irgendetwas sagt mir, dass Vater Strain keine Beförderung mehr erwarten kann. Aber vielleicht ist es ihm egal.
»Also gut, Kardinal Ross. Wie könnte Lisa Reid die Aufmerksamkeit des Predigers auf sich gezogen haben? Durch Zeitungsberichte?«
»Es ist in keinem größeren Blatt erschienen, von dem ich wüsste. Sicher, es gab ein paar Erwähnungen in katholischen Blogs im Internet und in einigen Newslettern. Selbst in der katholischen Kirche wird gelegentlich eine Debatte über Homosexualität geführt und darüber, wie man die Homosexuellen am besten zu Gottes Gnaden führen kann. Ein Thema, das hitzige Reaktionen hervorruft, wie Sie sich bestimmt vorstellen können.«
»Das könnte die Verbindung sein«, sage ich nachdenklich. »Vielleicht liest er religiöse Blogs ...«
»Halten Sie es für möglich, dass Vater Strain in Gefahr ist, Agentin Barrett? Dieser Mörder, dieser Prediger ... würde er Vater Strain etwas antun, weil dieser Dexter Reid in die Gemeinde aufgenommen hat?«
Mir fällt auf, dass wir die Debatte, die der Kardinal erwähnt hat, im Hier und Jetzt fortsetzen. Ich spreche von Lisa, er von Dexter, und doch reden wir von der gleichen Person. Dass Kardinal Ross von »Dexter« spricht, kommt mir herablassend und abwertend vor.
»Das glaube ich nicht«, beantworte ich seine Frage. »Lisa war ein Werkzeug für ihn und bot ihm die Möglichkeit, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und auf das, was er getan hat. Er wollte mit einem Paukenschlag aus der Anonymität hervortreten. Lisa passte da großartig in seinen Plan, schon wegen der politischen Verbindungen
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