Das Boese in uns
Kontakt brachte.
»Es gibt weitaus mehr Menschen auf dieser Welt, die nicht an Gott glauben, als es Gläubige gibt«, sagte er zu ihnen. »Wenn ihr den Ungläubigen das Wort Gottes verkünden wollt, müsst ihr sie zuvor verstehen. Verständnis erzeugt Mitgefühl, und Mitgefühl erzeugt Liebe. Und Liebe ist der beste Weg, Jesus in das Herz eines Sünders zu bringen.«
Michael und Frances taten wie geheißen und gingen gemeinsam hinaus in die Welt. Sie betrachteten die Welt wie zwei Soldaten, die auf einen Einsatz geschickt worden waren. Beide waren so attraktiv, dass Michaels Ablehnung sämtlicher Annäherungsversuche die Mädchen schier verrückt machte, und Frances' Ablehnung die Jungen überzeugte, dass sie die begehrenswerteste Frau auf der Welt war.
Sie hatten keine echten Freunde oder Freundinnen in der Schule, nur Bekanntschaften, doch das genügte ihnen. Sie waren zufrieden mit dem Weg, den sie vor sich sahen, und sie hatten keine Zweifel an ihrer Zukunft.
Vater und Tante Michelle waren Zwillinge, und sie waren Priester und Nonne geworden. Frances und Michael waren ebenfalls Zwillinge und würden der gleichen Berufung folgen. Was konnte das anderes sein als ein Zeichen Gottes?
Sie setzten sich auf ihre Betten, um ihre Hausaufgaben zu machen. Michael war sich der Tatsache peinlich bewusst, dass er noch immer eine Erektion hatte. Das Bild von Mrs. Stevens war sehr lebendig. Er sah aus den Augenwinkeln zu seiner Zwillingsschwester und stellte schockiert fest, dass sie ihn prüfend musterte.
Sie weiß es. Sie weiß es jedes Mal.
Es erregte ihn, es stieß ihn ab, es erfüllte ihn mit Schuld und mit etwas sehr viel Dunklerem.
Ihre Miene war grüblerisch. Dann lächelte sie und streckte die Hand nach dem Vorhang aus. Ehe sie ihn zuzog, sagte sie: »Dass du mir nicht vergisst, morgen zur Beichte zu gehen.«
Er schluckte. »Keine Sorge.«
»Ich liebe dich, Michael.« »Ich liebe dich auch.« Sie zog den Vorhang zu.
Michael und Frances waren siebzehn Jahre alt, als sich alles änderte.
Es gab keinerlei Vorzeichen, dass ihre Welt zusammenstürzen würde. Die Welt - und Gott - waren grausam und fremd in ihren Wegen. Das hatte Michael stets gewusst und akzeptiert, bis es ihm selbst zugestoßen war.
Sie schliefen beide in ihrem Zimmer, als Michael durch das Geräusch von Stimmen geweckt wurde. Er blickte zu seiner Schwester und sah, dass sie noch schlief. Noch Jahre später fragte er sich, warum er aufgewacht war. Er gelangte zu dem Schluss, dass Gott ihn aus dem Schlaf gerufen hatte. Weil Gott einen Plan hatte.
Die Stimmen waren nicht laut, aber drängend. Seltsamerweise war es zwei Uhr nachts; Vater ging normalerweise um halb zehn ins Bett und stand um halb fünf wieder auf.
Michael erhob sich und tappte zur Tür. Er legte das Ohr ans Holz, wie er es so viele Male beim Beichtstuhl getan hatte. Er schloss die Augen und lauschte.
Eine der Stimmen war die einer Frau, und sie klang seltsam vertraut - auch wenn Michael sie nicht recht einordnen konnte. Die andere Stimme gehörte seinem Vater.
»Sie dürfen es nicht erfahren!«, flüsterte sein Vater drängend. »Es gibt keinen Grund dafür! Das war unsere Sünde. Es bleibt unser Geheimnis. Den Kindern geht es gut, sie sind gesund, und beide wollen ein Leben im Dienste Gottes führen. Warum sollen wir ihnen jetzt diese Bürde aufladen?«
»Gott hat zu mir gesprochen, Frank. Ich habe die letzten sechzehn Jahre damit verbracht, zu ihm zu beten und ihn um Vergebung zu bitten. Ich habe Schwielen an den Knien vom Beten. Endlich, endlich hat er geantwortet. Und weißt du, was er gesagt hat? Nur ein einziges Wort. WAHRHEIT. Ich habe es in meinem Herzen gehört, so klar wie eine Glocke. Gott ist Liebe, Frank, weißt du? Und Liebe kann nur aus Wahrheit entstehen. Ich war zu Anfang einverstanden, diese Sache geheim zu halten, weil ich mich so sehr geschämt habe. Ich war sicher, dass Gott mir niemals vergeben würde. Doch er hat zu mir gesprochen, er hat mir gesagt, dass er mir vergibt. Ich muss nichts weiter tun, als ihm zu gehorchen und allen die Wahrheit zu erzählen.«
»Du leidest an Halluzinationen! Glaubst du allen Ernstes, Gott würde wünschen, dass du ihrer beider Leben ruinierst, indem du ihnen erzählst, dass du ihre Mutter bist?«
Michaels Kopf schoss von der Tür weg, als hätte er das Ohr gegen ein glühendes Eisen gepresst.
Was hatte er da gesagt?
Mutter. Das Wort war Mutter.
Wie viele Male hatten sie in ihrer Kindheit den Vater bedrängt,
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