Das Boese in uns
erschreckt, hätte er nicht ihr Kommen gespürt. Es war nahezu unmöglich für einen von ihnen, sich unbemerkt an den anderen heranzuschleichen. Er wusste nicht, woran es lag. Vielleicht daran, dass sie Zwillinge waren.
Michael nahm sehr vorsichtig, sehr zögernd das Ohr von der Wand und drehte sich zu seiner Schwester um. »Mrs. Stevens«, gestand er grinsend.
Sie schnitt eine Grimasse. »Diese Hure? Warum hörst du dir so gerne an, was sie zu sagen hat? Macht es deinen Pipimann hart?«
»Nein!«, flüsterte Michael protestierend. »Selbstverständlich nicht!«
Frances grinste zurück. Es war ein wissendes Grinsen. Michael wusste, dass sie seine Lüge durchschaute - genauso, wie er jede ihrer Lügen auf den ersten Blick erkannte.
Er seufzte und zuckte die Schultern.
»Ich gehe zur Beichte.«
»Gut.«
Damit war die Sache erledigt, wie Michael wusste. Denn der Liebe seiner Zwillingsschwester konnte er sich so sicher sein wie seines Glaubens.
»Lass uns von hier verschwinden«, flüsterte er.
Sie huschten lautlos wie Meisterdiebe vom Beichtstuhl weg und kehrten in die Wohnung zurück, in ihr gemeinsames Zimmer. Es war ein kleines Zimmer. Man konnte es karg nennen, doch es war nichtsdestotrotz ihr Zuhause.
Das Zimmer wurde durch einen Vorhang geteilt, der von der Decke hing und den sie zuziehen konnten, falls nötig. Vater hatte ihn aufgehängt, als Frances Brüste gewachsen waren.
»Das ist eine Mauer«, hatte er gesagt. »Eine Mauer ohne Tür darin. Wenn ihr diesen Vorhang zuzieht, kann ihn nur die Person, die ihn geschlossen hat, wieder öffnen. Versteht ihr?«
»Ja, Vater«, hatten sie übereinstimmend geantwortet, ohne damals so recht die Notwendigkeit dafür zu begreifen.
Das hatte sich inzwischen geändert. Michael masturbierte manchmal des Nachts, nachdem Frances eingeschlafen war. Er kämpfte zwar dagegen an, doch mitunter wurde das Verlangen überwältigend. In seinem dunklen Versteck, seine Schwester auf Armeslänge neben sich und doch unberührbar, war es irgendwie noch aufregender. Er gab sich alle Mühe, leise zu sein, wusste aber auch, dass er manchmal lauter aufstöhnte, als er sollte. Ob sie ihn in diesen Augenblicken hören konnte? Wahrscheinlich, dachte er. Ja, wahrscheinlich hatte sie ihn gehört.
Er hatte sie ebenfalls gehört. Spät nachts, wenn sie geglaubt hatte, dass er schlief, hatte er ihre leisen Seufzer und ihr unterdrücktes Stöhnen vernommen, und ihm war klar geworden, dass auch sie sich selbst befriedigte. Zuerst war er schockiert gewesen, dann fasziniert, und dann brachte es etwas in ihm hervor, über das er lieber nicht genauer nachdenken wollte.
Er würde seine Schwester niemals berühren, nicht in einer Million Jahren, doch eines Tages gestand er ihr etwas.
»Ich werde niemals Sex haben«, sagte er. »Aber wenn ich mit einer Frau schlafen würde, müsste sie genauso sein wie du, Frances.«
»Ich weiß.« Sie lächelte. »Mir geht es bei dir nicht anders.«
Manche würden es verdreht nennen, sie aber nannten es Liebe, und sie achteten sorgfältig darauf, nicht zu weit zu gehen. Abgesehen davon passierte niemals etwas zwischen ihnen.
Frances wollte Nonne werden. Es war ihr gemeinsamer Plan. Dass sie dadurch getrennt wurden, machte es ihnen schwer, sehr schwer, doch war Leid nicht eines der Dinge, die Gott den Gläubigen auferlegte?
Es gab für alles einen Grund, daran glaubten sie beide. So wie Frances und Michael, war auch ihr Vater ein Zwilling. Er hatte eine Schwester. Er war nicht als Jungfrau ins Priesterseminar gegangen. Er hatte mit einer Frau geschlafen und sie geschwängert. Sie war bei der Geburt der Kinder gestorben. Es war schwierig, doch wie bei allen anderen Dingen auch war Vater der Aufgabe gewachsen, die Gott ihm auferlegt hatte. Er erzog seine Kinder und überzeugte die Kirche, ihn trotzdem im Seminar aufzunehmen. Seine Zwillingsschwester, Tante Michelle, kümmerte sich in der Zwischenzeit um sie. Als Vater als geweihter Priester zurückkam, nahm er die Kinder wieder zu sich, und Tante Michelle schloss sich einem Konvent an und wurde Nonne.
Es war ein ungewöhnliches Leben, das wussten beide Kinder, doch Dad war ein guter Vater. Er war freundlich, er war klug, er war hart, aber gerecht. Er erzog sie vor allem anderen dazu, Gott zu lieben, doch er verlangte auch, dass sie ihren Glauben mit dem Verstand prüften, indem er sie auf öffentliche, nicht auf private Schulen schickte und sie mit der sündhaften Welt draußen jenseits der Kirchenmauern in
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