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Das Boese in uns

Das Boese in uns

Titel: Das Boese in uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cody Mcfadyen
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hat er es angestellt?«
    »Verstanden.«
    Callie nickt ebenfalls.
    Ich werfe einen letzten Blick auf das Fenster, neben dem Lisa Reid gestorben ist; dann wende ich mich ab und verlasse den Tatort für immer. Das Bild wird irgendwann verblassen, das weiß ich schon jetzt. Eines Tages werde ich in einem Flugzeug an einem Fensterplatz sitzen und nicht einmal mehr an Lisa Reid denken.
    Eines Tages.
     

Kapitel 6
    Alan und ich fahren auf dem Freeway zurück nach Alexandria. Unterwegs herrscht kaum Verkehr; nur wenige andere Fahrzeuge sind auf der Straße. Ihre Fahrer haben wahrscheinlich den gleichen Wunsch wie wir: Sie würden gern im Bett liegen und schlafen.
    Alan fährt schweigend. Wir haben die Heizung voll aufgedreht, um die Kälte zu vertreiben. Es ist dunkel - stockdunkel und still.
    »Was hat die Kälte nur an sich, dass sie die Dinge stiller erscheinen lässt, als sie normalerweise sind?«, überlege ich laut.
    Alan schaut kurz zu mir herüber und lächelt. »Die Dinge sind stiller in der Kälte«, sagt er. »Du bist an L. A. gewöhnt. Da wird es normalerweise nie kalt genug, um Mensch und Tier in die Häuser zu treiben. Hier schon.«
    Er hat recht. Ich habe diese Erfahrung als Mädchen gemacht, im Alter zwischen sechs und zehn Jahren, bevor meine Mom an Krebs erkrankte. Damals machten wir oft lange Camping-Reisen mit dem Auto. Mom und Dad stimmten ihren Urlaub aufeinander ab, und wir verbrachten zwei Wochen damit, kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten zu trekken, von einem Campingplatz zum nächsten.
    Ich erinnere mich an das Anstrengende bei diesen Reisen: das nicht enden wollende Surren der Räder auf dem Asphalt, das Vorbeirauschen der Welt und die intensive, beinahe schmerzhafte Langeweile. Ich erinnere mich an Spiele, die ich mit meiner Mom im Wagen gespielt habe. I-Spy. »Pididdles« zählen - Fahrzeuge, bei denen nur ein Scheinwerfer brennt. Schräge Lieder, laut und falsch gesungen.
    Innerhalb fünf Jahren sah ich große Teile der Vereinigten Staaten: Den Rocky Mountain National Park. Yellowstone. Mount Rushmore. Wir überquerten den Mississippi in verschiedenen Staaten und aßen Gumbo in New Orleans, wo der riesige Fluss ins Meer mündet.
    Einmal war Dad besonders ehrgeizig und fuhr im Herbst den ganzen Weg hinauf bis in den Norden des Staates New York. Er wollte uns die Catskill Mountains zeigen, wo angeblich Rip Van Winkle gelebt hat, die Figur aus Washington Irvings Kurzgeschichtensammlung. Es war eine unerträglich lange Fahrt, und wir waren gereizt und völlig am Ende, als wir endlich ans Ziel kamen. Wir fuhren auf den Campingplatz, und ich stieg aus dem Wagen, so schnell ich konnte.
    Die Laubbäume in den Catskills waren unglaublich. Ihre Blätter leuchteten in den sattesten Farben. Es war kalt, so kalt wie hier und jetzt, und ich erinnere mich an die beißende Luft auf meinen Wangen und an die weißen Wölkchen meines kondensierenden Atems in der Luft.
    »Da muss man im Wald pinkeln«, hatte meine Mutter geschimpft, »und dabei kriegt man dann auch noch ne Gänsehaut am Hintern!«
    »Ist es nicht trotzdem wunderschön?«, hatte mein Dad geantwortet, mit hörbarer Ehrfurcht in der Stimme, ohne Moms Zorn zu bemerken.
    Das liebte ich so an meinem Vater: Er war jung geblieben, unendlich jung, wenn es darum ging, die Welt zu bestaunen. Meine Mom war vorsichtiger. Sie blieb mit den Füßen auf dem Boden, was wichtig war; Dad jedoch hielt unsere Köpfe in den Wolken, was seinen eigenen Wert besaß.
    Ich weiß noch, wie Mom sich zornig zu ihm umdrehte, um eine Bemerkung zu machen, die ihr jedoch auf den Lippen erstarb, als sie die Freude auf seinem Gesicht entdeckte. Sie folgte seinem Blick und sah endlich, was auch er sah, wurde angesteckt von seinem Staunen und stolperte mitten hinein in seinen Traum.
    »Das ist es«, sagte sie leise. »Das ist es wirklich.«
    »Darf ich mir die Gegend angucken?«, fragte ich.
    »Sicher, Kleines«, antwortete Dad. »Aber geh nicht zu weit weg. Bleib in der Nähe, hörst du?«
    »Okay, Daddy.« Ich sprang davon und rannte unter die Bäume.
    Ich hielt Wort und blieb in der Nähe. Ich musste nicht weit laufen, nur ungefähr fünfzig Schritte, und ich war plötzlich mutterseelenallein, einsamer als je zuvor im Leben. Ich blieb stehen, um dieses Gefühl in mich aufzunehmen - nicht so sehr aus Angst, eher aus Interesse. Ich war auf eine kleine Lichtung gelangt, die umsäumt wurde von mächtigen Bäumen mit blutrotem Herbstlaub, das an den Zweigen verrottete. Ich

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