Das Boese in uns
Geschmack, ein klein wenig zu schrill, um klassisch zu sein, und trotzdem relativ unaufdringlich. Freche Anspielungen, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen.
Ich verlasse das Schlafzimmer und wende mich dem angrenzenden Bad zu. Erneut springt es mich förmlich an: Dies ist die Wohnung einer Frau. Make-up, Luffa, Seife mit Lavendelduft. Badeperlen, pinkfarbene Damenrasierer, ein Handcremespender. Selbst der Toilettendeckel ist heruntergeklappt. Hat sie im Sitzen gepinkelt? Oder im Stehen?
Der Arzneischrank ist der eines gesunden Menschen. Ich sehe Aspirin, Pflaster, Verbandmull und dergleichen. Keine Antidepressiva, keine verschreibungspflichtigen Schmerzmittel - überhaupt keine Medikamente, was mich verblüfft, bis es mir aufgeht: Lisa hat ihre Medikamente mitgenommen auf ihre Reise nach Texas.
Unter dem Waschbecken sind ein Wischlappen und Badreiniger. Auf dem Fußboden steht eine digitale Waage, und ich steige aus Gewohnheit darauf, immer noch in dem Bemühen, Lisa zu sein. Ich stelle mir vor, wie ich die Lügen der Anzeige ignoriere, so wie Lisa es getan hätte. Ein letztes Innehalten, ein Blick in die Runde, und ich verlasse das Bad, um mich in ihrem Arbeitszimmer umzusehen.
Das Büro ist in den gleichen dunklen Erdtönen gehalten wie die gesamte Wohnung. Vor dem Fenster steht ein Schreibtisch. Lisa konnte nach draußen schauen, wenn ihr danach war, während ihr Flachbildschirm gleichzeitig vor dem grellen Sonnenlicht geschützt wurde. Der Schreibtisch selbst besteht aus dunklem Holz und ist weder besonders massiv noch ausgesprochen zierlich, sondern irgendwo dazwischen. Offenbar stand Lisa auf Holz. Ich habe nur sehr wenig Metall an ihren Möbeln gesehen.
Neben dem Schreibtisch steht ein Aktenschrank. An der Wand gegenüber ein hohes Bücherregal, ebenfalls aus dunklem Holz. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Buchrücken. Es handelt sich fast ausnahmslos um Reiseführer für Schwule und Lesben.
Ein Blick in den Aktenschrank enthüllt nichts von unmittelbarem Interesse. Wir müssen alles gründlich durchgehen, doch das ist nicht der Grund, warum ich jetzt hier bin. Ich suche nach etwas, irgendetwas, das mir ins Auge springt, das uns helfen könnte, die richtige Fährte aufzunehmen.
Ich sehe mir den Schreibtisch genauer an. Er ist sauber, nichts außer einer kleinen Schale und einem Stift darin. Ich schließe die Augen, versuche mir Lisas morgendliche Routine vorzustellen. Ich schlüpfe aus den Schuhen, weil sie wahrscheinlich barfuß im Haus umhergelaufen ist - der Grund für den dicken Teppichboden überall.
Ich stelle mir vor, wie sie aufwacht, zur Kaffeemaschine geht, sich einen heißen Kaffee einschenkt und mit verschlafenen Augen an den Schreibtisch kommt, vor dem Computer Platz nimmt ...
Nein. Falsch.
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Lisa und mir. Wenn ich morgens erwache, mögen meine Haare eine Katastrophe sein, ich habe Ränder unter den Augen, ich denke vielleicht sogar, dass ich meine Oberlippe mit Wachs enthaaren muss -aber ich muss niemals befürchten, dass jemand unangekündigt vor meiner Haustür steht und herausfindet, dass ich in Wirklichkeit gar keine Frau bin.
Lisa hatte genau diese Sorge. Eine beständige Sorge. Ich schließe die Augen und kehre an den Ausgangspunkt zurück.
Ich stelle mir vor, wie sie aufwacht. Ihr erster Weg führt sie ins Bad. Duschen, Beine rasieren, falls nötig, Zähneputzen. Haare machen. Make-up auflegen - nichts besonders Schickes, nur so viel, dass es ein Frauengesicht ist, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickt. Wir alle sind auf die eine oder andere Weise Sklaven des Spiegels, doch für Lisa hatte er eine noch viel weiter reichende Bedeutung.
Die Kleidung ist leger, eine weite Jogginghose und ein T-Shirt sind okay, doch das Gesicht muss fertig sein, bevor sie sich einen Kaffee einschenkt. Es ist das Erste, was sie am Morgen nach dem Aufwachen tut - sie bereitet sich auf die Möglichkeit vor, dass Gott weiß wer sie sieht.
Jetzt passt auch der Rest: der Kaffee, der barfüßige Weg in dieses Arbeitszimmer.
Ich setze mich vor ihren PC und schalte ihn ein. Der Desktop-Hintergrund ist ein atemberaubendes Bild der ägyptischen Pyramiden vor einem wolkenlos blauen Himmel.
Ich öffne den Webbrowser und gehe den Verlaufsordner durch, um herauszufinden, welche Seiten Lisa besucht hat. Es ist eine
Mischung aus Shopping und Geschäft. Ich entdecke ihre eigene Webseite, Rainbow Travels. Die erste Seite zeigt ein Foto von Lisa, lächelnd
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