Das Boese in uns
breitete die Arme aus, legte den Kopf weit in den Nacken, schloss die Augen und lauschte der Stille und dem Schweigen des Waldes.
Jahre später stand ich vor der Leiche einer jungen Frau in den Wäldern von Angeles Crest, erinnerte mich an die Stille und das Schweigen und fragte mich, wie es sein mochte, mitten in diesem Nichts getötet zu werden, umgeben von dieser Einsamkeit - einer gewaltigen Kathedrale für die eigenen Schreie der Qual und der Angst.
Damals, auf jener Fahrt nach New York, war ich zehn Jahre alt. Es war die letzte Reise, die wir unternahmen, bevor meine Mom krank wurde. Wenn ich an meine Eltern denke, sehe ich sie stets in dem Alter von damals vor mir, dreißig und einunddreißig Jahre alt, jünger, als ich heute bin. Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an diese Camping-Touren, an I-Spy und an Pididdles und »Sind wir bald da?« und das Lamentieren meiner Mutter. Ich erinnere mich an das Staunen meines Vaters, an Moms Liebe zu ihm, an das Herbstlaub und die Bäume und die Zeit, als die Stille noch Schönheit enthielt und keine Erinnerungen an Tod.
Lisa wohnt in einem Neubau, fast im Zentrum von Alexandria. Die Reihenhäuser sind schmuck, passen aber nicht so recht in die Umgebung.
»Irgendwie wie Kalifornien in Virginia«, meint Alan und spricht meine Gedanken aus.
Das Haus hat seine eigene kleine Auffahrt. Es ist verputzt und mit braunem Holz verkleidet. Noch ist niemand hier gewesen. Noch gibt es kein gelb-schwarzes Absperrband an der Tür. Wir parken den Wagen in der Auffahrt, steigen aus und gehen zur Tür. Alan will sich Lisas Haus mit mir zusammen ansehen, ehe er sich auf die Jagd nach den Zeugen macht.
Wir sind noch einmal beim Leichenschauhaus vorbeigefahren, wo ich Lisas Schlüssel geholt habe. Ich probiere einen nach dem anderen im schwachen Licht der Straßenlaternen, doch keiner will passen.
»Der da vielleicht?« Alan zeigt auf einen goldfarbenen Schlüssel.
Ich schiebe ihn ins Sicherheitsschloss, und es dreht sich mit einem hörbaren Klicken. Ich stecke den Schlüsselbund in die Jackentasche, und wir ziehen beide unsere Waffen.
»Ladys first«, sagt Alan.
Das Haus hat zwei Gästezimmer, von denen eines als Arbeitszimmer dient. Wir sehen uns rasch in diesen beiden Zimmern sowie im Gästebad und im Elternschlafzimmer um, bevor wir unsere Waffen wieder einstecken.
»Hübsche Wohnung«, sagt Alan.
»Ja.«
Alles ist in gedämpften Erdfarben gehalten, unaufdringlich, ohne langweilig zu sein. Überall finden sich Farbtupfer, angefangen bei kastanienroten Wurfkissen auf dem Sofa bis hin zu weißen Baumwollvorhängen mit blauem Blumenmuster entlang den Säumen. Alles ist sauber und frei von Gerüchen. Keine Haustiere, keine schmutzige Wäsche, kein stehen gebliebenes Essen. Lisa hat nicht geraucht. Der Wohnzimmertisch aus Holz ist übersät mit einem bunten Allerlei von Magazinen und Büchern. Lisa war ordentlich, aber nicht pedantisch.
»Ist es okay, wenn ich jetzt fahre?«, fragt Alan.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist fünf.
»Klar. Aber bevor du dich auf die Suche nach den Zeugen machst oder den Geldstrom analysierst, mach bitte eine Datenbankanfrage nach Morden mit der gleichen oder einer ähnlichen Signatur.«
»Du meinst das Kreuz?«
»Das Kreuz oder auch nur die Symbole auf dem Kreuz. Ich glaube zwar nicht, dass wir auf Verbrechen stoßen, die lange zurückliegen, aber es wäre möglich, dass sich in der jüngeren Vergangenheit nicht aufgeklärte Morde finden.«
Er runzelt die Stirn. »Du meinst, der Killer ist bereits längere Zeit am Werk und hat jetzt erst beschlossen, ins Licht zu treten?«
»Genau.«
»Ziemlich dumme Idee, wenn du mich fragst.« »Hoffen wir, dass du recht hast.«
Ich bin allein. Ich lasse das Licht ausgeschaltet. Die Morgendämmerung hat eingesetzt, und ich will das Wohnzimmer so sehen, wie Lisa es gesehen hätte. Ich setze mich auf die Couch, braune Mikrofaser, ein Sofa wie tausend andere, sieht man davon ab, dass dieses Sofa Lisa gehörte. Sie hat hier auf diesem Sofa gesessen, wieder und wieder. Ich kann ihren Lieblingsplatz sehen - ein Kissen, das ein klein wenig abgenutzter ist als die anderen.
Gegenüber der Couch steht ein mittelgroßer Fernseher mit Flachbildschirm in gemütlichem Abstand von der Sitzecke. Ich stelle mir vor, wie Lisa hier sitzt, die Lichter aus, und wie Schatten über ihr Gesicht tanzen. Ich sehe eine Flasche Nagellack auf dem Wohnzimmertisch und muss lächeln. Sie hat ferngesehen, während sie
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