Das Boese in uns
sich die Fingernägel lackiert hat. Ich entdecke ein Buch auf einem Beistelltisch, eine humorvolle Liebesgeschichte. Vielleicht hat sie in dem Buch gelesen, während ihre Fußnägel getrocknet sind. Unschuldige Laster.
Diese Wohnung war ein Zufluchtsort, ein Heiligtum; dennoch werde ich sie auf den Kopf stellen. Ich glaube, dass ich zumindest in dieser Hinsicht den Killern, die ich jage, sehr ähnlich bin. Ich werde mich durch dieses Haus bewegen und Türen und Schubladen öffnen, werde Lisas E-Mails lesen und in ihren Arzneischrank schauen. Ich werde sämtliche Grenzen zu ihrer Privatsphäre überschreiten, bis es nichts mehr zu finden gibt.
Früher einmal konnte Lisa den Schlüssel umdrehen und die Welt draußen daran hindern, ihre Geheimnisse zu entdecken, aber das ist vorbei. Die Killer, die ich jage, beziehen ihre Machtphantasien aus der Vorstellung, sämtliche Barrieren niederzureißen, die ihr Opfer um sich herum errichtet hat, bis es schutzlos und voller Todesangst vor ihnen steht.
Meine Motive sind offensichtlich reiner, doch ich habe bereits vor langer Zeit gelernt, dass ich mit meiner Arbeit nicht weiterleben könnte, wäre ich unehrlich zu mir selbst, und die Wahrheit ist: Auch ich spüre einen Anflug dieser Macht, den Nervenkitzel eines Voyeurs, wenn ich das Heim eines Opfers durchsuche und alles durchwühle. Ich kann hinschauen, wohin ich will, anfassen, was ich will, jede Tür aufmachen, die ich öffnen will. Es ist berauschend, dieses Gefühl der umfassenden Kontrolle, und ich kann beinahe verstehen, warum es für Psychopathen so anziehend ist.
Ich stehe auf und gehe in die Küche. Sie ist klein, funktionell und sehr sauber. Braune Granitarbeitsflächen. Ein Kühlschrank aus Edelstahl mit dazu passender Mikrowelle, Ofen und Geschirrspüler. Ich öffne ein paar Schränke und schaue hinein. Weißes Porzellan, sauber und sorgfältig gestapelt.
Der Kühlschrank ist fast leer. Ich sehe eine Einkaufsliste an der Kühlschranktür. Darauf steht: Mineralwasser, Binden, Mac und Käse.
Das brauchst du jetzt alles nicht mehr, Lisa.
Die Küchenschubladen liefern keine Erkenntnisse. Besteck, ein Telefonbuch, ein paar Stifte und Haftnotizen. Ich bin nicht allzu überrascht. Lisa war ein Mensch, der es gewöhnt war, sich in der Öffentlichkeit zu verstellen. Sie hat ihre Geheimnisse sicherlich nicht hier aufbewahrt, wo ein Gast sie zufällig finden kann.
Ich gehe weiter ins Schlafzimmer. Es ist mittelgroß und mit flauschigem, beigefarbenem Teppichboden ausgelegt. Das Bett beherrscht den Raum, ein California Kingsize. Die irdenen Farbtöne aus dem Wohnzimmer finden ihre Fortsetzung. Lisa hatte ihren Stil gefunden, was das Dekor angeht: Feminin, ohne mädchenhaft zu wirken.
Ich gehe zum Nachttisch, zumeist der Ort, an dem Frauen ihre Geheimnisse aufbewahren. Ich öffne die oberste Schublade und werde nicht enttäuscht. Dort liegen ein Plastikbeutel voll Marihuana und Blättchen zum Zigarettendrehen. Außerdem eine Flasche Babyöl und ein Magazin mit Fotos von muskulösen nackten Männern. Ich schaue mich um und sehe den CD-Player.
Ich stelle mir vor, wie Lisa eine CD einlegt, sich einen Joint ansteckt und inhaliert, während sie durch die Seiten des Magazins blättert, bis sie den richtigen visuellen Anreiz findet ... sich zurücklehnt, das Babyöl nimmt...
An diesem Punkt trennen sich unsere Wege, Lisa.
Meine Hände haben einen anderen Tastsinn, wenn sie in die dortigen Regionen wandern. Ich hatte niemals einen Penis, und ich wollte niemals einen, auch wenn ich Penisse in den Händen gehalten habe. Ich weiß, wie sie sich anfühlen, wie sie riechen, wie sie schmecken ... doch ich weiß nicht, wie es ist, einen Penis zu berühren und zu spüren, dass es der eigene ist.
Hat es dir etwas ausgemacht? Du hast dich zu Männern hingezogen gefühlt, du hast dich danach gesehnt, eine Frau zu sein. Wenn du deinen Penis berührt hast, war er dir fremd? Hast du ihn in deiner Phantasie in etwas anderes verwandelt?
Ich versuche mich in Lisa hineinzuversetzen, zu empfinden, wie sie empfunden haben mag, doch die Erfahrung bleibt mir verschlossen.
Ich nehme mir die nächste Schublade vor und finde lediglich ein paar Taschentücher.
Ich gehe zur Kommode und durchsuche weitere Schubladen. Sie sehen aus wie meine eigenen. Ich sehe keinerlei Männersachen. BHs, Höschen, T-Shirts, Jeans. Genauso der begehbare Kleiderschrank - eine Mischung aus Kostümen, Hosenanzügen und tonnenweise Schuhen. Lisa hatte einen guten
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