Das Boese in uns
und hübsch. Hätte ich nur dieses Bild, ich würde im Traum nicht auf den Gedanken kommen, sie könnte mal ein Mann gewesen sein. Fotos ...
Ich stehe auf, gehe aus dem Arbeitszimmer zurück ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer ... Ich hatte recht. Keine Fotos an den Wänden. Keine Bilder von ihrer Familie, keine Schnappschüsse von Rosario oder Dillon, nicht mal ein Foto von ihr selbst. Ein Picasso-Kunstdruck und ein Schwarzweiß-Poster von Ansei Adams. Mehr nicht.
Das macht mich nachdenklich. Warum keine Fotos? War die Vorstellung unangenehm für sie, jeden Tag ihre Eltern zu sehen? Oder war es einfach eine Fortsetzung ihrer Bemühungen, die Eltern vor ihrem eigenen Leben zu schützen? Damit kein Besucher einen Zusammenhang herstellen konnte?
Ich kehre ins Arbeitszimmer zurück, setze mich wieder vor den Computer und sehe ihre E-Mails durch. Massenhaft geschäftliche Korrespondenz, E-Mails im Zusammenhang mit Online-Käufen ... aber auch hier gibt es merkwürdigerweise nichts, rein gar nichts Persönliches.
Es ist wie eine Cyberspace-Version der fehlenden Familienfotos.
Allmählich entwickle ich eine Vorstellung von Lisa, die Rosarios Annahme vom zufriedenen Leben ihrer Tochter widerspricht. Zugegeben, das Haus ist hübsch. Lisa hatte ihr eigenes Reiseunternehmen, sie hatte einen Flachbildfernseher und Marihuana und Babyöl, alles schön und gut - doch in mir regt sich der Verdacht, dass diese Wohnung ein Ort der Einsamkeit war, ein Ort der täglichen Routine und des Verlassenseins.
Ich finde keine E-Mails an Freundinnen oder Freunde, und auch Lisa selbst hat keine erhalten. Keine Besuche auf Dating-Seiten, nicht der geringste Hinweis darauf, dass sie nach draußen gegangen wäre.
Ich stoße einen Seufzer aus und lehne mich im Bürosessel zurück. Ich bin unzufrieden. Wo ist Lisa in dieser Wohnung? Wo ist ihre Seele?
Mein Fuß berührt irgendetwas unter dem Schreibtisch. Stirnrunzelnd schiebe ich den Sessel zurück, beuge mich vor und hebe es auf. Als ich sehe, was ich da gefunden habe, geht mein Puls schneller.
Es ist ein braunes, in Leder gebundenes Notizbuch, auf dessen Vorderseite in goldenen Buchstaben das Wort »Journal« geprägt ist.
»Endlich kommen wir einen Schritt weiter«, murmle ich.
Der erste Eintrag liegt eine Woche zurück. Lisa hat eine hübsche, geschwungene, gut zu lesende Handschrift. Ich fange an zu lesen.
Ich weiß überhaupt nicht, warum ich diese Tagebücher führe. Vielleicht, um meine Einsamkeit zu dokumentieren. Ich weiß es wirklich nicht.
Jedenfalls hilft es, sich dann und wann hinzusetzen und die Worte zu schreiben: Ich bin einsam. Ich bin einsam. Ich bin so verdammt einsam.
Gestern habe ich in der Bibel gelesen, im ersten Brief an die Korinther. Ich habe darin gelesen und musste weinen. Ich weinte, weinte, weinte. Ich konnte nicht anders. Da steht:
Liebe ist langmütig, Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie ist nicht ungehörig, sie ist nicht selbstsüchtig, sie lässt sich nicht zum Zorn reizen, sie trägt das Schlechte nicht nach. Die Liebe erfreut sich nicht am Unrecht, sondern an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles und hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.
Ich las diese Zeilen, und für einen Moment hatte ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Es schmerzte so sehr, dass ich glaubte, zerspringen zu müssen.
Es war die Frage, die diese Zeilen in mir aufsteigen ließ: Werde ich jemals einen Menschen haben, dem ich diese Worte sagen kann? Jemals im Leben? Wird irgendwann einmal jemand so für mich empfinden?
Gibt es einen Mann da draußen, der mich küsst und der herausfindet, was ich bin, und mich trotzdem weiter küsst und bei mir bleibt? Und wenn es ihn gibt - werde ich ihn erkennen, wenn er mir begegnet?
Ich weiß, ich weiß. Ich bin auf einer Reise, und es ist ein Marathon und kein Sprint. Aber manchmal habe ich Zweifel. Zweifel an mir selbst. Zweifel an meinen eigenen Entscheidungen. Manchmal - ich schäme mich, es zu sagen - habe ich sogar an Gott meine Zweifel.
Wie kann ich Gott anzweifeln? Gott ist der Einzige, der immer für mich da gewesen ist.
Verzeih mir, Gott.
Manchmal fühle ich mich nur so schrecklich einsam.
Ich lese diese Zeilen und schlucke mühsam. Dann gehe ich zum nächsten Eintrag. Er ist zwei Tage nach dem ersten datiert.
Nana ist tot. Keine Überraschung, aber es tut trotzdem weh. Nana war Rassistin. Nana hätte mich nicht
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