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Das Boese in uns

Das Boese in uns

Titel: Das Boese in uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cody Mcfadyen
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aufgewacht und seiner morgendlichen Routine nachgegangen. Sie war ihm kostbar, und dies umso mehr, je älter er wurde und je deutlicher er erkannte, dass sich etwas änderte. Er war elf Jahre alt und bereits imstande, die Grenzen zwischen den Geschlechtern zu erkennen, die - einst so verschwommen - mehr und mehr in den Mittelpunkt traten. Jungs, die nur ein Jahr älter waren als er, redeten viel häufiger und mit viel stärkerem Interesse und Hunger über Dinge wie »Pussy«. Es war eine beunruhigende Entwicklung.
    Dexter war seit seinem sechsten Geburtstag jeden Samstagmorgen um halb sechs aufgestanden, ohne Wecker. Er hatte herausgefunden, dass einige der besten Zeichentrickserien - die alten in Schwarzweiß, die man sonst nirgendwo mehr zu sehen bekam in diesen frühen Stunden gesendet wurden.
    Er pflegte aufzustehen und hinunter in die Küche zu gehen und sich einen Toast mit Zucker und Zimt zu machen - dick mit Butter, ungesunden Mengen an Zucker und genau so viel Zimt, dass alles ein klein wenig Biss bekam. Er schob den Toast in den Mini-Ofen, und wenn er wieder herauskam, brutzelte die Butter darauf. Dexter beobachtete durch die Scheibe, wie die Heizschlangen rot glühend und der Toast in der Hitze braun wurden.
    Er liebte diese frühen Morgenstunden, wenn außer ihm niemand wach war, sodass er das ganze Haus für sich allein hatte -wenigstens in seiner Einbildung. Es war ein Gefühl von Freiheit und Sicherheit, nicht so sehr, dass niemals etwas passieren würde, sondern vielmehr, dass jetzt, in diesem Moment, nichts Schlimmes geschah. Die Zeit zwischen halb sechs und acht Uhr morgens war in Dexters Herz wie ein Waffenstillstand zwischen ihm und der Welt.
    Sobald sein Toast ausreichend abgekühlt war (aber nicht zu sehr), legte Dexter ihn auf ein paar Papiertücher und ging damit ins Wohnzimmer, wo der Fernseher stand. Er schaltete das Gerät ein, suchte den richtigen Kanal und ließ sich auf seinen Bohnensack fallen. Mom hasste den Bohnensack, und Dad war ebenfalls nicht begeistert davon - er nannte ihn ein »Relikt aus den Siebzigern« -, doch Dexter hatte darauf beharrt, das Sitzmöbel zu behalten. Es war ein Talisman. Ein Teil des Rituals.
    Manchmal gab es im Texas-Fernsehen in diesen frühen Morgenstunden Inki und der Vogel Mynah, aber die meiste Zeit wurde Huckleberry Hound gespielt oder sonst ein alter, nicht einzuordnender Zeichentrickfilm. Auf diese folgte Tom und Jerry, und von Tom und Jerry ging es weiter zur Bugs Bunny Roadrunner Show. Dexter sah sie alle nacheinander an und verfasste während der Werbeunterbrechungen im Kopf Listen mit all den schicken neuen Spielsachen, die er von Mom und Dad erbetteln konnte.
    Der erste Teil der morgendlichen Magie endete stets gegen acht Uhr, wenn Mom und Dad aufstanden. Dexter liebte seine Eltern, doch der Zweck des Rituals war Einsamkeit, und sie brachen mit ihrer Gegenwart den Bann. Dexter ging stets unter die Dusche und zog sich an, während sie ihren ersten Kaffee tranken. Ein Kuss auf Moms Wange und ein gemurmeltes »Guten Morgen« zu Dad, und spätestens um halb neun war er durch die Tür und aus dem Haus.
    Da stand er nun, Toast und Zeichentrick hinter sich und den ganzen Tag vor sich. Was sollte er mit seiner Zeit anfangen? Er hatte ein paar Dollars in der Tasche, das Ergebnis eifrigen Rasenmähens in der Nachbarschaft. Er konnte zum Circle K fahren und ein paar Comics kaufen. Oder er konnte sein Fahrrad nehmen und zum Teich fahren. Gütiger Himmel, er konnte tun und lassen, wozu er Lust hatte!
    Er beschloss, zu Fuß zu gehen - eine ungewöhnliche Wahl, doch der Tag war großartig, und er wollte den Boden unter seinen Tennisschuhen spüren. Er ging hinunter zur Kreuzung, wo seine Wohnstraße in eine andere Straße mündete. Nach rechts gelangte man in den Park und zum Schwimmbad, links ging es nach Rambling Oaks, eine Gegend, die bei den Kindern nur »Wäldchen« genannt wurde.
    Es war im Grunde genommen kein richtiges Wäldchen, mehr ein verwilderter Hain. Er befand sich ganz am Rand des Neubaugebiets, noch nicht gerodet und umgepflügt von Baggern als Vorbereitung für ein neues Wohngebiet mit größeren Häusern.
    Die meiste Zeit verspürte Dexter keine große Lust, in den Wald zu gehen, doch an diesem Tag war es anders. Er war ein geselliges Kind, doch derzeit war ihm nicht nach Geselligkeit zumute. Also bog er nach links ab und nicht nach rechts. Es war eine einfache Entscheidung, doch sie würde sein Leben für immer verändern - wie das nun mal

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